
Der Rosenkranz
Wenn es dunkelte, ließ man uns nicht mehr aus dem Hause. Wir hatten auch keine besondere Lust, uns draußen alleine herumzutreiben. Nur das Zwielicht lockte eine Weile in die halb sichtbare und halb unsichtbare Welt. Die Nacht jedoch war für uns Kinder voller Schauer, und wir suchten Schutz vor ihr. Manchmal freilich saßen wir auf der Torbank und zählten wetteifernd die aufgehenden Sterne, bis wir mit unseren Ziffern zu Ende waren. Die grauen Flügelhäute der Fledermäuse, die jetzt über das Dach zuckten, fühlten wir mit kaltem Grausen fast an den Augen. So widerwärtig waren uns diese gespenstischen Taumelwesen. Die Schwestern fürchteten sich davor, denn man sagte, sie hingen sich an die Mädchenzöpfe, von wo man sie nimmer losbrächte. Der Himmel wachte mit seinen Sternen auf, und die Erde ging in Schweigen zur Ruhe. Das selige Daheimsein konnte ich mir in meiner Kindheit ohne den Rosenkranz nicht denken.
Er durchflocht unsere jungen Jahre mit seinen hohen Geheimnissen, deren tiefen Sinn wir nur unvollkommen erfassten. Mochten uns die vielen Ave Maria auch in das Endlose zu wandern scheinen, begleitet von unseren leider oft ins Irdische ausschwärmenden Gedanken, wir empfanden doch, mit dem abendlichen Rosenkranze war das Tagwerk der Erwachsenen vollbracht, und das Spiel der Kleinen beendet. Er gehörte zum geweihten Hausrate. So hielt man es damals unter dem Bauernvolk, und es war eine blanke Zeit, die mit festem Schritt durch die Täler der Heimat ging.
Ich erinnere mich zweier riesenhafter Rosenkränze in der Nische eines Stubenfensters im Hof des Großvaters neben dem geschnitzten Gamskopf. Die großen, schwarzbraunen Holzkugeln waren an einer Hanfschnur aufgereiht. Man konnte sie hin- und herschieben wie die der Rechenmaschine in der Schule. Wie viele AveMaria haben sie gezählt! Durch wie viele Hände, schwielig von der Arbeit, durchpulst von jungem Blut und starr vor Alter, glitten sie! Ich sehe mich neben dem vorbetenden Großvater knien. Er war todmüde, sein grauer Kopf nickte und nickte, die Stimme verlor sich und das Rasseln des Rosenkranzes hörte von Zeit zu Zeit auf. Da beobachtete ich in der Fensterscheibe, hinter der der Holzladen aus dem Fache gezogen war, sein schattenhaftes Spiegelbild. Von der Kirche her zirpten die Grillen. Die Spinnräder der Muhmen surrten. Ich war die einzige helle Stimme in der weiten kaum erleuchteten Stube.
Den ersten Rosenkranz schenkten uns, wie gebräuchlich, die Paten noch lange vor Schulbeginn. Mit diesen roten, grünen Glasperlen, durch einfachen Draht so eng aneinander gefesselt, dass wir die kleinen Finger kaum dazwischen legen konnten, prunkten wir, als wären es Edelsteine gleich jenen der Monstranz; sonst kannten wir ja keine, höchstens ein rotes Sternlein oder ein blaues Auge in einem Silberreif. Diese „Patterlen“, wie wir sie hießen, trugen wir in unseren Hosensäcken, wo sie sich mit anderen zu ihrer Weihe gar nicht passenden Dingen fast unlösbar verwickelten, mit alten Uhrrädchen, selbst gegossenen bleiernen Schlagringen und Spagatknäueln. Es war eine Geduldprobe, die Verbandelten zu befreien. Riss ein Gliedchen, knüpften wir das Kettchen mit einem Zwirnfaden wieder zusammen. Bisweilen ging dabei die eine oder andere Koralle verloren, dass die einzelnen Gesätzlein nicht mehr die schöne Zehnerreihe aufwiesen. Unser Traum blieb ein silbergekettelter Perlmutterrosenkranz. Auch die der Bäuerinnen in der Kirche mit Medaillen, Kreuzlein oder geweihten Pfennigen daran gefielen uns. Die Vaterunser-Perlen trugen zierliche Käppchen, und in der Reihe der anderen baumelte fröhlich ein silbernes Herz oder ein silbernes Scheibchen mit dem Bilde der Weißensteiner oder der Trenser Muttergottes darauf. Es klingelte fein durch dieses Gewinde. Wie verstanden es die Bäuerinnen, ihre Hände mit dem königlichen Kranze zu schmücken.
Unser Perlmuttertraum versank dann für lange Zeit, denn der Lehrer, der am ersten Tiroler Pilgerzug nach dem Heiligen Land teilnahm, hatte uns Rosenkränze aus Jerusalem mitgebracht. Aus welchem Stoff die rotbraunen, länglichen Korallen bestanden, haben wir nie erfahren. Sie strömten einen für uns ganz und gar fremden Geruch aus. Voll Ehrfurcht bestaunten wir diese Rosenkränze, und niemals mischten wir sie unter das wirre Geraffel unserer Taschen. Was hing auch alles an ihnen! Sie fuhren über das große Meer, aus einem fremden Erdteil und aus einer anderen Welt, die wir nur aus der Bibel kannten. Weil sie ihre Weihe in Bethlehem, in Nazareth oder in Jerusalem empfingen, drehten wir die Korallen hin und her, als müssten sie die erhabenen Stätten widerspiegeln. Nun sind sie abgebetet. Wir wissen nicht, wann, wo und wie sie unseren Händen entglitten. Was aber an Blüten kindlicher Andacht an ihnen sprosste, wird für uns unverwelklich bleiben.
Es gab kein Haus und keinen Hof in unserem Tal ohne den abendlichen Rosenkranz. Man sah die Leute, die auf den Stubenbänken knieten, an den Fenstern. Sie lächelten und winkten Vorübergehenden einen Gruß zu. Man hörte helle und tiefe Stimmen, die von Zeit zu Zeit arg durcheinanderwirbelten. Trat ein Nachbar, ein Bekannter oder Verwandter in die Stube, kniete auch er sich hin, denn der Bauer unterbrach deswegen die Andacht nicht. Viele Höfe schlossen am Ende noch ihre eigenen Anliegen nach alter Überlieferung an. Dann erst hing jeder seinen Rosenkranz an den Nagel neben der Fensternische. Nun begann Spiel und Unterhaltung, Stricken und Flicken, Lesen und Erzählen im Rauch brennender Pfeifen und im Lachen der Kinder, die nicht zu Bett wollten. Die Schwarzwälderin tickte gelassen dazu. Der Bauer zündete die Laterne an und hielt Nachschau im Stall. Das war der letzte Gang auf dem Hof, vielleicht noch jener zur Mühle. Vor Jahren, wird berichtet, beteten die Leute nach einem Gelöbnis schon um drei Uhr in der Früh den Rosenkranz, wenn es „Zu Tage“ läutete. Man nannte diese Andacht „Zu Tage“ beten, denn in uralter Zeit habe die Sonne nicht mehr aufgehen wollen.
Wir Buben verteilten uns daheim beim Rosenkranz an die Stubenfenster. Die Ehrenplätze neben dem Vater gehörten den Jüngsten. Die Schwestern blieben an der Seite der Mutter vor der Ofenbank. Unsere Fenster gingen auf die Straße zu. Gegenüber erhob sich sonnseitig der waldreiche Bloßenberg mit einem Wiesenhang am Fuße und mit dem Gürtel der Feldmark eines Hofes um die Mitte. Droben endete er im Wagner, dessen Kamm gegen den Himmel wie der gewölbte Rücken eines ungeheuren Tieres aussah. Links schimmerte das Trippachkees. Dieser Blick da hinüber war am Abend so schön. Samten glänzte die Wiese, schwarz vor Dichte dunkelte der Wald, weiß blinkte das Hofkirchlein und rötlich das Gebirge, bis es bleich und grau versank. Wundert euch nicht, dass wir vor einer solchen Schau oft unser Gebet nur mehr so hersagten. Es hatte manchen harten Strauß zu bestehen. Zuerst galt es, unsere von den Tagesereignissen erhitzten Gemüter zu beruhigen und uns des süß lockenden Schlummers zu erwehren, müde zum Umfallen, wie wir waren. Kehrte dann die rechte Stimmung in uns ein, fuhr gewiss ein Wagen auf der Straße drüben zwischen die Ave Maria, oder es hoppelte ein Häslein vom Wald herunter dem Kleefeld zu und bei uns mitten hinein in ein freudenreiches Geheimnis. Bei offenem Fenster hörten wir den Ruf der Eule wie das ferne Klappern einer Waldmühle. Wohl zogen diese Zwischenspiele flüchtig vorbei, doch eine Erscheinung blieb während des ganzen Gebets. Das war das Herabsteigen des Mondlichts vom Bloßenberg zu Tal. Den Mond selber sah ich nicht. Der stand im Osten. Sein Schein schälte den Berg aus dem Dunkel der Nacht. Droben strahlte das Felsgebirge, das Kees und die Hänge des Wagners. Immer größere Flächen des Waldes tauchten in das fließende Silber. Immer tiefer rollte der Schattenmantel herab. Ich war ganz in dieses wunderbar wechselnde Bild versunken. Maria hat wohl zwischen dem Wachsen des Himmelslichts und dem Abnehmen meiner Andacht den rechten Ausgleich für mich gefunden.
Man fragt mich, da wir ja nicht alle ausgewachsene Musterknaben in jeglichen Dingen waren, ob wir gerne beteten. Seht, wir hätten den Rosenkranz vermisst und eher das Nachtmahl versäumt als ihn.
Stille Feierstunde, in der die fromme Stimme des Volkes auf zu Gott stieg! Bei uns daheim begleitete sie meist das weiche Schaukeln einer Wiege. Der Rosenkranz meiner Kinderjahre umfing eine gesegnetere Zeit und ein friedlicheres Land.
Aus dem Buch „Marienlob und Gloriasang“ von Joseph Georg Oberkofler