Betrachtungen in der Fastenzeit: Pilatus, Teil 1

Quelle: Distrikt Österreich

Detail aus dem Fastentuch der Pfarre St. Martin in Baldramsdorf (Kärnten). Das Fastentuch stammt aus dem Jahr 1555.

In unseren bisherigen Betrachtungen über das Leiden Christi sind wir schon an verschiedenen Menschen vorübergegangen, die dabei beteiligt waren; wir haben ihnen ins Gesicht geschaut, ja noch tiefer hinein, bis in die Seele. Jetzt aber zieht in diesem Schauspiel des Leidens Christi eine weitere Persönlichkeit auf, ein Mann von Bildung und hohem Ansehen; es ist ein Heide. Seinen Namen kennt jedes Kind. Du selbst, mein Christ, nennst diesen alten Heidennamen unzählige Male; schon heute hat ihn dein Mund genannt, als du gebetet hast: „Gelitten unter Pontius Pilatus“. Es ist seltsam, in dem apostolischen Glaubensbekenntnis, diesem erhabensten Inbegriff unseres Glaubens, das so sparsam ist an Worten und so reich an Inhalt, es ist seltsam, in ihm neben den heiligsten Namen Gottes, Jesus Christus und Maria einzig noch diesen alten Heidennamen zu lesen. Wie kommt Pontius Pilatus ins Credo?

Das, wusste er selbst noch nicht, als er ungefähr zehn Jahre vor dem Leiden Christi nach Palästina kam, nachdem er vom Kaiser in Rom als Statthalter oder Landpfleger über diese römische Provinz gesetzt worden war. Als den Pilatus die Meereswellen hertrugen vom Abendland, als er zum ersten Mal von der hohen See aus die Berge von Judäa erblickte, da ahnte er nicht, welches Schicksal seiner harre auf diesem Boden, dass er hier ein Mann werden sollte, nicht berühmt, aber berüchtigt, und warum er als der ungerechte Richter dastehen sollte, durch alle Zeiten, bis zum Ende der Welt. Er ahnte nicht, dass er nur ein paar Stunden lang zusammentreffen sollte mit dem Sohne Gottes und dass diese paar Stunden genügen würden, um seinen Namen unsterblich zu machen in Schmach.

Als Pilatus an der Küste Palästinas ans Land stieg, da war Jesus noch verborgen in Nazareth droben, aber schon sah Er ihn ans Land steigen; Er wusste, dass eine Stunde kommen werde, wo er als Angeklagter vor diesem Manne stehen und von ihm zum Tode verurteilt werde. Diese Stunde und dieser Mann ist es, auf welche wir heute unsere Blicke heften wollen. Wir wissen, der hohe Rat der Juden hatte Jesus zum Tode verurteilt wegen angeblicher Gotteslästerung. Die Juden durften aber von sich aus, seitdem das ihr Land unter die Römer gekommen war, kein Todesurteil vollstrecken; sie mussten also Jesus zum römischen Landpfleger bringen. Nur durch Pilatus konnten sie ihn ans Kreuz schlagen lassen. Nun steht also Jesus vor dem Landpfleger, dem Stellvertreter des weitgebietenden römischen Kaisers. Jetzt ist Er, wie Er selbst vorausgesagt hatte (Lk 18,32), von Seinem eigenen Volke an die Heiden ausgeliefert. 

Christus, der unendlich Große, steht da vor Pilatus, der so klein ist in so vielen Beziehungen, er steht vor ihm demütig, bescheiden und ehrerbietig, als Angeklagter bereit, das Urteil zu vernehmen. Doch ging es nicht so schnell, als die Ankläger gehofft hatten. Es dauerte lange, bis sich Pilatus dazu herbeiließ, Ihn ans Kreuz zu liefern. Und nun gerade in diesem langen Hin- und Herhandeln lernen wir den Pilatus kennen; da steht der Mann in scharfer Beleuchtung uns zugekehrt; jeder Zug an ihm ist sichtbar. So möge also dieser merkwürdige und unglückliche Mensch uns zeigen, wie er ist und was es für uns aus seiner Geschichte zu lernen gibt. Wir betrachten

1) Die Sünde des Pilatus
2) Die Warnung, die in dieser Sünde liegt. 

Pilatus wird von einem alten Schriftsteller jener Zeit als ein stolzer und grausamer Römer geschildert, der die Juden aufs Tiefste verachtete. Manches Stück wird von ihm erzählt, das ihn als einen harten Menschen kennzeichnet, dem es nicht viel kostete, Blut zu vergießen. (Vgl. Josef. Antt. XVIII, cap. 3 u. 4). Dennoch, als Pilatus mit Jesus zusammenkam, zeigt er anfangs einige guten Eigenschaften, die sich wie helle Pinselstriche in dem sonst so dunkeln Bild dieses Mannes ausnehmen. Ihr könnt vor allem an Pilatus einen klaren, gesunden Verstand beobachten. Dieser Mann ist nichts weniger als beschränkt. Er durchschaut gar bald die Hinterlist der Ankläger, wie sie ihm im Handumdrehen ein ungerechtes Todesurteil über Jesus abgewinnen wollen, wie sie es gar eilig haben am frühen Morgen; er erkundigt sich nach der Anklage gegen Jesus. Jetzt bringen sie Anklagen vor, die ganz auf Pilatus berechnet sind; sie sagen nicht, dass er ein Gotteslästerer sei, sondern er sei ein Aufwiegler, fordere zur Steuerverweigerung auf, maße sich das Königtum an (Lk 23,2). Wie schlau das ausgedacht war! Sein Ankläger wussten, wie sehr Pilatus als Landpfleger auf Ruhe im Lande, auf Eingehen der Steuern sehen müsse, wie viel ihm daran liege, dass niemand sich als König erhebe und sich ausspiele gegen den Kaiser. Sie dachten, jetzt wird Pilatus gewiss das Todesurteil aussprechen.

Aber bemerkt nun, wie Pilatus auch jetzt Gerechtigkeitsgefühl genug hat, um darauf nicht einzugehen. Er will ihn nicht ungehört verurteilen; er will zuvor untersuchen. Er nimmt Jesus hinein in den Gerichtssaal und fragt ihn, ob er sich wirklich zum König machen wolle. Der Heiland sagt, Er sei ein König, aber Sein Reich sei nicht von dieser Welt (Joh 18,33ff), Sein Königtum sei nicht ein irdisches, sondern ein geistiges, und damit ist Pilatus zufrieden. Er ist einsichtig und gerecht genug, um zu sehen, dass er keinen Hochverräter vor sich habe. Er erklärt ruhig und kalt: „Ich finde keine Schuld an Ihm“, und dabei bleibt er. So steht Pilatus am Anfang noch eigentlich achtungswürdig als ein Mann von unbefangenem Urteil und nicht ohne Gerechtigkeitsgefühl vor uns und sticht wohltuend ab von den tobenden, schreienden Volksmassen.

Aber, nun kommen die Schatten im Wesen des Pilatus, tiefe Schatten. Wir können zuerst fragen: wie stand es denn mit der Religion des Pilatus? Sie war nicht weit her. Er glaubte nicht mehr an die heidnischen Götzen, aber er glaubte auch sonst nichts. Als Jesus zu ihm sagte: „Ich bin gekommen in diese Welt, um der Wahrheit Zeugnis zu geben“, da sagte Pilatus wie wegwerfend: „Was ist Wahrheit?“ (Joh 18,37f) Und gleich nach diesem Wort ging er hinaus und wollte nichts weiter von Wahrheit hören. Er glaubt nicht, dass es eine Wahrheit gebe. Ob es einen Gott gebe, ob es eine unsterbliche Seele gebe, eine Zukunft nach dem Tode, ein Gericht — all das ist ihm schwankend, gleichgültig. Er ist ein vollendeter Zweifler. Als er Jesus Christus vor sich sah, in dieser Hoheit und Freiheit des Geistes, in dieser erhabenen Ruhe, da ahnte er wohl Seine Größe; aber er lässt sich nicht weiter darauf ein. Er ist oberflächlich. Wäre Pilatus ein tieferer Mensch gewesen, so wäre er auch stärker, mutiger gewesen. So sehen wir aber in dem armen Manne neben seiner Zweifelsucht viel Schwäche, viel Menschenfurcht und falsche Nachgiebigkeit. Er hätte wahrlich nicht nicht so zu fürchten gebraucht, er hatte ja die Macht in Händen.   Aber als der schlaue und tatkräftige Annas und Kaiphas sahen, wie Pilatus von Anfang an nicht ganz feststand, so nützten sie das aus. Sie gingen nun darauf aus, dem Pilatus das Todesurteil über Jesus um jeden Preis abzutrotzen. Pilatus wand sich hin und her, er wollte Jesus frei geben und in seiner Schwäche das Volk doch nicht gänzlich vor den Kopf stoßen. Da verfiel er auf allerlei Auskunftsmittel, von denen jedes noch mehr Leiden und Schmerzen über Jesus brachte. Wie haben die Halbheit und Unentschlossenheit des Pilatus den Heiland von einem Leiden ins andere gestürzt!

Zuerst schickte er Jesus zu Herodes und glaubte so den lästigen Handel los zu werden. Aber welche Demütigung war das für Jesus, zu einem so weichlichen, wollüstigen und gehaltlosen Menschen wie Herodes geführt zu werden! Wie erbärmlich wurde er dort verlacht und verspottet von Herodes und der ganzen Höflingsschar! Welcher Aufzug, als Er, der Sohn Gottes wieder zurückgeschickt wurde zu Pilatus, mit einem Spottmantel angetan!

Wird fortgesetzt! 

Quelle: Fastenpredigten von Paul Stiegele, Domkapitular, 1904