Betrachtungen in der Fastenzeit: Pilatus, Teil 2

Quelle: Distrikt Österreich

Detail vom Fastentuch in der Pfarre Irschen, Kärnten

Die zweite schlechte Auskunft, die Pilatus traf, war, dass er Jesus neben den Barabbas stellte. Er hoffte, das Volk werde die Freigebung Jesu fordern. Aber welche furchtbare Demütigung verursachte er da dem Heiland! Den Heiligen der Heiligen hinstellen neben einen Blutmenschen, einen Raubmörder, und kalt fragen: „Welchen von beiden wollt ihr, dass ich euch freigebe“ - ist das nicht ein Übermaß von Schmach, das Pilatus dem Heiland bereitete?

Aber es ist noch nicht genug! Als das Volk schrie: „Gib den Barabbas los!“ (Lk 23,18), da treibt die Halbheit den Pilatus zu einem weiteren erbärmlichen Auskunftsmittel. Es fällt ihm ein, den Heiland „geißeln zu lassen und ihn dann freizugeben.“ Wenn Jesus unschuldig ist, was Pilatus immer erklärt, wozu Ihm die furchtbare Pein der Geißelung bereiten? Aber Pilatus dachte, das sei eine Abschlagszahlung an die Ankläger. 

So wurde Jesus das Opfer der Unentschlossenheit des Pilatus. Mit tausend blutigen Striemen hat sich die Feigheit des Pilatus eingezeichnet in den unschuldigen Leib Christi und sich abgedrückt in Seinem dornumwundenen Haupt. Wie teuer kamen Jesus die Rettungsversuche des Pilatus zu stehen! Noch einige Mal versucht Pilatus weiter in seiner schwächlichen Weise, Jesus zu retten; zuletzt stellte Er in so erbarmungswürdiger Gestalt den Ecce homo vor das Volk. Es nützte nichts. Da spielten die, die Jesus töten lassen wollten, endlich die letzte Karte aus; sie schrieen: „Wenn du diesen frei gibst, so bist du nicht des Kaisers Freund!“ Das schlug durch. Pilatus war schon wiederholt beim Kaiser verklagt worden.

Schreckliche Bilder treten vor seine Seele. Schon sieht er die Ankläger auf dem Wege zum Kaiser nach Rom, um ihn anzuklagen, wie er einen Empörer freigelassen habe; schon sah er sich selbst zur Verantwortung gezogen, vom Kaiser ungnädig empfangen, verurteilt, sah seine Frau verlassen und im Elend — und jetzt ist der schwache Mann getroffen, entwaffnet. Jetzt wehrt er sich nicht mehr, sondern spricht er das Todesurteil über Jesus aus, den er feierlich vier- oder fünfmal als unschuldig erklärt hatte.

So ging für Pilatus die entscheidende Stunde seines Lebens vorüber. Er war auf eine große Probe gesetzt worden und hat diese Probe entsetzlich schlecht bestanden. Wie mag es ihm an jenem Tage nachher zu Mut gewesen sein? Wie, als die Sonnenfinsternis kam und ihn in Nacht hüllte? Wenn er in den folgenden Jahren wieder nach Jerusalem heraufkam und das Gerichtshaus sah und den Kalvarienberg, wird ihm, dem feigen Mann, nicht das Gewissen geschlagen haben?

Sechs Jahre nach dem Tode Jesu sehen wir den Pilatus wieder auf der Heimfahrt nach Rom. Wieder trugen ihn die Meereswellen, aber diesmal gen Westen ins Abendland. Es war keine fröhliche Heimfahrt; denn er war beim Kaiser angeklagt worden, weil er ein paar hundert Menschen hatte niederhauen lassen, und musste sich verantworten. Als er nach Rom kam, traf er den alten Kaiser Tiberius tot; der neue untersuchte die Anklage. Es muss nicht gut gegangen sein. Jedenfalls wurde Pilatus abgesetzt. Er sei in die Verbannung geschickt worden. Und eines Tages kam der Tod - ein alter Schriftsteller sagt, Pilatus habe freiwillig den Tod gesucht (Eusebius, Kirchengesch.2,7) - und jetzt ist wieder ein Gericht: Pilatus und Jesus sind wieder beisammen; aber siehe, wie die beiden Rollen, die des Richters und des Angeklagten diesmal gewechselt haben! Seht, wie der letzte Akt zwischen Jesus und Pilatus drüben spielt, hinter dem geheimnisvollen Vorhang der Ewigkeit! Keines Menschen Ohr hat es gehört, was dort Jesus zu Pilatus gesprochen, wohin Er den geschickt hat, der Ihn ans Kreuz schickte aber unter all den Menschen, die wir einmal am Jüngsten Tage sehen werden, wird auch Pilatus sein, und vor uns und vor allen wird er nochmals dastehen, als der ungerechte Richter.

Doch, hat uns Pilatus nichts zu sagen von der Ewigkeit herüber? Hat er uns keine Warnung zu geben, dass wir nicht seine Wege gehen? „Aber“, wirst du sagen, „wie sollte ich die Wege des Pilatus gehen, ich ein Mann, ein Weib aus dem Volke? Es hat einmal einen Pontius Pilatus gegeben und der ist schon lange tot; es wird kein zweiter mehr kommenl“ Mein Christ, sprich nicht so zuversichtlich! Pontius Pilatus ist tot, und er lebt doch noch und geht immer noch um auf Erden mit seiner Schwäche, seiner Halbheit, seiner Menschenfurcht; er geht um unter dem Christenvolke und findet da viele Nachahmer. Halbheit, Schwäche, Menschenfurcht verursachen auch jetzt noch zahllose Ungerechtigkeiten bei Christenmenschen gegen unsern Herrn Jesus Christus und seine heilige Religion. Menschenfurcht, sie droht uns allen, sie kann uns alle um Heil und Seligkeit bringen. Dieser Gedanke ist zu wichtig, als dass ich von ihm schweigen könnte; ich will ihn vielmehr als den zweiten Teil dieser Pilatuspredigt anfügen.

Die Menschenfurcht zeigt sich darin, dass man sich scheut, seinen Glauben offen vor den Menschen zu bekennen, seine religiösen Pflichten offen vor den Menschen zu erfüllen, seine religiösen Übungen, Gebet und Andacht offen vor den Menschen zu verrichten, wenn dies sein sollte. Es ist merkwürdig, dass es gerade hinsichtlich der Religion so viel Menschenfurcht gibt. Man sollte meinen, wenn es einen Gott gibt, wenn dieser Gott hienieden eine Religion gestiftet hat durch Seinen Sohn, so wäre es selbstverständlich, zu dieser Religion offen sich zu bekennen.

Und dennoch will sich das unter uns Menschen nicht so von selbst verstehen; zum Bekenntnis der Religion vor den Menschen gehört oftmals ein gewisser Mut. Warum? Weil die Religion eine Sache ist, die der Welt nun einmal nicht gefallen will. Nichts hienieden wird von der Hölle und von der Welt mehr gehasst als der Glaube. Hinweg mit ihm! Kreuzige ihn! Kreuzige ihn! So schallt es noch immer durch die Welt. Alle ihre Waffen richtet die Welt gegen die Religion - und namentlich eine Waffe, die besonders gefürchtet ist unter den Menschen - den Spott. Wenn die Welt ihren Spott ausgießt über Beten, Beichten, Kommunizieren, Mitgehen bei den Prozessionen - „das viele Kirchenlaufen,“ wie sie sagen - so weiß die Welt, dass sie damit Männern und Frauen gegenüber, und zwar gegenüber den Männern noch mehr als gegenüber den Frauen, eine schneidende Waffe in der Hand hat. Mancher mutige Mann wird einen offenen, heftigen Angriff auf die Religion weniger fürchten - aber einem spöttischen Gesicht, einer spöttischen Rede, einem spöttischen Zeitungsartikel, dem ist er nicht gewachsen. Man mag ihm hundertmal sagen, er soll nichts geben auf den Spötter, der Spott über die Religion sei das, wozu der armselige Mensch hienieden wahrlich am allerwenigsten Grund habe, es sei das Oberflächlichste, Seichteste, was man hinsichtlich der Religion tun könne - es hilft nichts, der Giftpfeil des Spottes ist und bleibt gefürchtet, und ohne diese Furcht wäre so mancher ein besserer und eifrigerer Christ, als er wirklich ist.

Wird fortgesetzt!

Quelle: Fastenpredigten von Paul Stiegele, Domkapitular, 1904