Ein schlechter Tausch

Quelle: Distrikt Österreich

Eine wahre Geschichte zum Monat des Totengedenkens

Rudolf war kein armer Mann, ganz im Gegenteil, und doch fügten es die Umstände seines Lebens, dass er seine letzte Ruhestätte in einem Wiener Armengrab fand. Zwischen seinem Todestag und seinem Begräbnis vergingen mehr als zwei Monate. Es gab keinerlei Zweifel an seiner Todesursache, starb er doch  82jährig an einem Herzinfarkt in einem Wiener Krankenhaus, trotzdem lag sein Leichnam, tiefgefroren, 64 Tage lang  in einer Wiener Leichenhalle und wartete darauf, zur letzten Ruhe gebettet zu werden.

Schon lange lebte Rudolf allein und damit teilte er das Schicksal von 118.000 alleinlebenden Senioren in Wien. Seine Frau war vor mehr als 20 Jahren gestorben, die Ehe ist kinderlos geblieben. Seine Schwester, ebenfalls ohne Kinder, war vor langer Zeit bei einem Autounfall tödlich verunglückt. Rudolf hatte also keine Familie, keine Anverwandten. Er scheute die Auseinandersetzung mit dem Gedanken an den Tod, auch in seinem nun schon recht fortgeschrittenen Alter, und so hatte er selbst keinerlei Vorkehrungen für sein Ableben getroffen. In einem solchen Fall übernimmt die Stadt Wien die Organisation der Beerdigung und stellt dem Verstorbenen für zehn Jahre ein Erdgrab zur Verfügung. Die Bestattung dieses reichen und zugleich armen Mannes sollte bei den wenigen Freunden, die Rudolf noch hatte und die zum Begräbnis erschienen waren, eine tiefe Betroffenheit hinterlassen. 

Es ist ein kalter Januartag und Hochnebel liegt über dem riesigen Areal am Stadtrand, das den Wiener Zentralfriedhof bildet. Das Begräbnis ist früh am Morgen angesetzt. Beim Betreten der Aufbahrungshalle erschrickt man unwillkürlich: Ein kahler, dämmriger Raum mit einer Vorrichtung zur Aufbahrung des Sarges in der Mitte. Aber der überaus schlichte Sarg des Verstorbenen steht dort nicht, sondern befindet sich davor auf einem kleinen, quadratischen, fahrbaren Gestell, mit dem er offenbar in den Raum geschoben wurde. Der Sarg wurde so unachtsam positioniert, dass man fürchten muss, er könnte demnächst aus dem Gleichgewicht kommen und kippen. Es bleiben noch einige Minuten bis zum angesetzten Zeitpunkt, der Sarg wird doch gewiss noch dorthin gestellt werden, wo er sich eigentlich schon befinden sollte? Wird er aber nicht. Pünktlich, zur angegebenen Zeit, ertönen drei Akkorde von der Orgel, dann verstummt sie und vier Männer der Bestattung erscheinen, nehmen wortlos den Sarg vom Transportwägelchen, geben im Vorübergehen den Befehl: „Folgen Sie uns“ und verlassen die Aufbahrungshalle. Der Sarg wird in das Auto geschoben, das sich unmittelbar darauf in Bewegung setzt. Benommen von dieser „Verabschiedung“, bei der nicht einmal die Zeit für ein stilles Gebet blieb, folgen die Wenigen, die dem Verstorbenen das letzte Geleit geben.

Der Weg geht vorbei an unzähligen aufgelassenen oder ungepflegten Gräbern im äußersten Bereich des Zentralfriedhofes. Beim Grab angekommen, wird der Sarg wortlos in den Schacht hinabgelassen. Ein Schäufelchen Erde erhält der Verstorbene noch von jedem seiner Freunde. Das war's dann. Ein langes, inhaltsreiches Leben mit unzähligen Erlebnissen, Begegnungen, mit übergroßer Freude und abgrundtiefem Leid endet im Dunkel, im Schweigen, in der Vergessenheit und in der Trostlosigkeit – so, als ob es dieses Leben nie gegeben hätte, wären da nicht die Erinnerungen der wenigen Freunde, die sich eingefunden hatten. 

Rudolf wurde nach seiner Geburt römisch-katholisch getauft und ging bis in die frühen Siebzigerjahre aufgrund seines Lehrberufes in einer bäuerlichen Region auch regelmäßig zur Sonntagsmesse. Die Bindung an die Religion erreichte aber nie einen Tiefgang und infolgedessen benötigte sie nicht viel, um irgendwann abzureißen, nachdem er im Alter von 40 Jahren den Lehrberuf aufgegeben hatte. Er trat aus der römisch-katholischen Kirche aus und bestätigte mit diesem äußeren Schritt nur einen inneren Prozess: Er hatte den Glauben an Gott verloren und hatte als Ersatz den Glauben an die Werte und Ziele des Zeitgeistes gewonnen. Mehr oder minder entspricht seine persönliche Entwicklung dem Entwicklungsprozess unserer Gesellschaft nach den Umbrüchen der 60er und 70er Jahre: Vom theozentrischen Weltbild hin zur Anthropozentrik, wo nicht mehr Gott, sondern der Mensch das Maß aller Dinge ist, nach ihm hat sich alles zu richten, auf ihn ist alles zentriert. Scheinbar.  Rudolf’s Begräbnis entlarvt diese Lüge an jenem trüben Januarmorgen. Die Wahrheit ist eine andere. Man hat den Menschen vergessen lassen, dass er als Kind Gottes, diesem ebenbildlich erschaffen, Träger einer unsterblichen Seele und somit ein Geschöpf ist, das untrennbar mit seinem Schöpfer verbunden bleibt und aufgrund dieser Verbindung auch eine unendliche Würde besitzt - auch dann, wenn dieses Geschöpf nichts von seinem Schöpfer wissen will.  Ich weiß, die Definition der Menschenwürde auf Wikipedia ist eine andere. Dank der gründlichen Arbeit, die Medien, Politik und selbst die Kirche in den letzten fünf bis sechs Jahrzehnten geleistet haben, wurde Gott aus den Herzen und Gehirnen der Menschen entfernt, ihr Denken wurde in einer radikalen Weise verändert, ja praktisch auf den Kopf gestellt, aus Gutem wurde Böses gemacht und aus Bösem Gutes und so wurde auch Gott zum Produkt unserer Einbildung degradiert, ja man behauptete sogar, dass der Glaube, die Verbundenheit mit unserem Schöpfer, angeblich in einem klar definierten Hirnareal lokalisiert werden konnte, ein gewisse Anomalie also. Das alles aber geschah so unterschwellig, dass es für den Einzelnen kaum durchschaubar war. Die Botschaften kamen in kleinen Dosen an und so, wohl verpackt, drangen sie in das Bewusstsein ein, vernebelten das Denken bis man schließlich davon überzeugt war, selbst zu der Erkenntnis gekommen zu sein, die in Wirklichkeit von Politik und Medien vorgegeben wurde. 

Wer von uns kennt noch den Ablauf eines Begräbnisses, bevor der Sturm der Zerstörung durch die Kirche fegte?  Der Sarg wurde in die Kirche gebracht und dann wurde der ganze Himmel angerufen mit den Worten: „Kommt zu Hilfe, ihr Heiligen Gottes, eilt ihm entgegen, ihr Engel des Herrn! Nehmt in Empfang seine Seele, führt ihn hin, dass er schaue den Herrn. Christus, der dich gerufen hat, nehme dich auf und die Engel geben dir in den Himmel Geleit!“. 

Ganz vorne in der Kirche, vor dem Altarraum, stand der Sarg, bedeckt von einem kostbaren, mit Goldfransen geschmückten, schwarzen Samttuch, flankiert von sechs honigfarbenen Kerzen. Der Priester begann die Totenmesse mit den Worten: „Du Herr der Erbarmungen, gewähre den Seelen Deiner Diener und Dienerinnen den Ort der Erquickung, die Seligkeit der Ruhe und die Klarheit des Lichtes.“ Und weiter: nimm sie huldvoll in die Gemeinschaft Deiner Heiligen auf... lass sie Vergebung und ewige Ruhe erlangen...lass sie die Seligkeit des ewigen Lichtes erlangen...  Der Chor nahm diese Gebete noch einmal auf und mit den Schwingen der Musik, wurden diese Worte des Priesters förmlich zu Gott empor getragen. Und wir, die wir den Verstorbenen gekannt und geliebt haben, waren getröstet ob dieser Worte und manchmal verwandelten sich unsere Tränen der Trauer sogar in Freudentränen ob eines solchen Trostes. 

Bevor der Sarg aus der Kirche getragen wurde, besprengte ihn der Priester mit geweihtem Wasser „Mit dem Tau des Himmels besprenge deine Seele Gott....“ und das Klingen des Weihrauchfasses begleitete seine Worte, wenn er den Sarg umrundete: „Mit himmlischen Duft labe und erfrische deine Seele Gott..  Ins Paradies mögen die Engel dich geleiten, bei deiner Ankunft die Märtyrer dich empfangen und hinführen zur heiligen Stadt Jerusalem...“ Und am Grab wurde noch der Sarg gesegnet und auch die Erde, die den Leichnam in seinem Sarg umfing. Dann ließ man den Sarg hinab, dorthin, wo der Tote seine letzte Ruhestätte hier auf Erden gefunden hatte, wo er zur Erde zurückkehrte, so wie er es jedes Jahr am Aschermittwoch vernommen hatte, und wo er jetzt der Auferstehung entgegensah, der Auferstehung des „Fleisches“, so wie es der Prophet Ezechiel in einer Vision sah: „Und siehe, Gebein fügte sich an Gebein und jedes zu seinem Gelenk. Und ich schaute, und siehe, Sehnen und Fleisch legten sich über sie, und Haut spannte sich darüber...“

Und wir, die vom Friedhof weggingen, trauerten weiter um unseren Angehörigen, den wir  schmerzlich vermissten, aber unsere Seele war genährt, weil ihr Hoffnung geschenkt wurde, die wir als Christen haben dürfen. Uns war erneut vor Augen geführt worden, welch außerordentliche Würde der Mensch als geliebtes Geschöpf Gottes und Träger einer unsterblichen Seele besitzt.  Und diese Würde verliert der Leib nicht, auch wenn die Seele ihn verlassen hat, hat er sie doch ein Leben lang beherbergt. Der Leib eines Verstorbenen verdient also einen höchst würde- und ehrfurchtsvollen Umgang und im Grunde genommen, spüren wir das alle ganz genau in unserem Innern, auch wenn es nicht mehr auf der Ebene unseres Bewusstseins ist. Das, was wir da fühlen, kann man verleugnen, abstreiten, man kann es wegdiskutieren, man kann unzählige Argumente dagegen anführen, es nützt nichts, denn dieses Wissen ist ein Teil von uns selbst, in uns eingepflanzt von unserem Schöpfer. 

Den Beweis dafür konnte man an diesem trostlosen Januartag erleben: Die wenigen Freunde, die zum Begräbnis erschienen waren, gehörten nahezu ausnahmslos der Generation an, die in ihrer Jugend zum Opfer der zerstörerischen Phrasen der 68er-Revolution wurden, sie haben das liberale Gedankengut verinnerlicht und in Wirklichkeit nie hinterfragt. Und so leisteten auch sie ihren Beitrag zur Zerstörung der europäischen Gesellschaft, zum Abbau der in Wahrheit untrennbaren Verbindung zwischen dem Menschen und seinem Schöpfer. Auch heute noch kreist ihr Denken in diesen Bahnen, durch die sie geprägt wurden, jedoch an diesem Tag wurde ihr Weltbild zumindest für einen Augenblick lang zutiefst erschüttert. Bei diesem Begräbnis wurden sie unmittelbar mit einem der Resultate des Zerstörungswerkes unserer Gesellschaft konfrontiert.  Jahrzehnte hatten sie dieses Denken mitgetragen, hatten ihr Leben damit geformt, aber nun begriffen sie plötzlich ihre Welt nicht mehr. An diesem trüben Januarmorgen sahen sie in das zerstörerische Antlitz des Zeitgeistes, der Schock stand in ihren Gesichtern, sie konnten es selbst kaum fassen und einer der Anwesenden sprach es aus: „Ein Hund wird besser begraben!“  Er hat nicht unrecht damit. Auf der gegenüberliegenden Seite der Simmeringer Hauptstraße befindet sich der Tierfriedhof und dessen Webseite verheißt den Kunden eine „würdevolle letzte Ruhestätte“ für ihre „liebsten Mitgeschöpfe“. 

Hätte uns der Zufall und die Evolution in dieses Leben geworfen, so wie es viele Zeitgenossen behaupten, dann bliebe von uns nicht mehr als ein jämmerlicher Haufen organischer Materie, deren Verwesungsprozess mit dem letzten Atemzug in Gang gesetzt wird. Warum sollte man diesem also Respekt und eine „letzte Ehre“ erweisen? Dann wäre das, was an diesem grauen Januarmorgen mit Rudolf’s Leichnam geschah, nur folgerichtig gewesen. Bei seinen Freunden aber drang aus dem Unterbewusstsein, wohin sie verbannt wurde, eine Ahnung an die Oberfläche, eine Ahnung, dass es doch etwas gibt, das den Menschen über den Hund, der gegenüber begraben wurde, erhebt: Seine ihm von Gott verliehene Würde, der sterbliche Leib hatte zeitlebens eine unsterbliche Seele beherbergt, ihre Hülle, die wir in die Erde betten,  verdient unseren Respekt und unsere Achtung. Beides hatte man heute dem Verstorbenen verwehrt. Gegen die Verheißungen der katholischen Religion, die in diesem Augenblick all ihr Beten, ihr Flehen, ihre Hoffnung mit ganzer Kraft der Seele des Verstorbenen zuwendet, wurden eingetauscht das Schweigen, die Hoffnungslosigkeit und die Trostlosigkeit. Und diese drei schmerzten ungemein an diesem kalten, trüben Januarmorgen und niemand ging getröstet fort.  Gebe es Gott, dass dieser Schmerz für so manchen heilsam sein möge.