Die Gründung von Mariazell

Otker, der Abt des steirischen Benediktinerstiftes St. Lambrecht, sandte im Jahre 1157 einen frommen Mönchspriester namens Magnus in die Gegend des heutigen Mariazell, die dem Stifte gehörte, um dort die Seelsorge auszuüben. Magnus besaß eine Muttergottesstatue aus Lindenholz, die mitzunehmen ihm der Abt erlaubte. Am Abend des 21. Dezember versperrte ihm ein Felsblock den Weg, und er wusste in der Wildnis nicht weiter. Da betete er zur Muttergottes, und auf einmal war der Felsen offen und er konnte weitergehen. Nicht allzufem davon ließ er sich nieder und beschloss, zu bleiben. Er stellte die Statue auf einen Baumstrunk und baute für sie und für sich eine Zelle. Er sorgte sich um das Seelenheil der Hirten und Jäger, die in der Gegend lebten, und diese gewöhnten sich daran, zur Muttergottes in der Zelle beten zu kommen. Das ist der Anfang der Wallfahrten nach Mariazell.
In den Gründungslegenden steckt meist neben einem Stück geschichtlicher Wahrheit zugleich auch ein wenig fromme Dichtung. Wahr ist vor allem der Zusammenhang mit dem Stifte St. Lambrecht. Heute noch verwalten Mönche des gleichen Stiftes das Heiligtum. Wir wissen sicher, dass die Gegend von Mariazell zu dem Aflenzer Besitz der Mönche von St. Lambrecht gehörte. Es gab dort Siedlungen, die hundert Jahre vor dem gemeldeten Gründungsjahr bestanden. Wir wissen, daß im Jahre 1103 Wälder, Erzlager und Salzquellen und die Pfarrkirche Aflenz dem Stifte St. Lambrecht geschenkt worden sind. Salzquellen gibt es dort aber nur im Halltal bei Mariazell. So wurde zuerst in Aflenz eine Verwaltungszentrale des Gebietes geschaffen, der ein Mönch vorstand, und dann schickte man auch einen in das Gebiet von Mariazell, der dort die Rechte des Klosters wahren sollte. Aflenz liegt acht Gehstunden nördlich von St. Lambrecht, und Mariazell wieder acht Gehstunden nördlich von Aflenz. Nach den alten Chronisten scheint es, dass man zuerst nur einen Verwalter für die Güter und Rechte aussandte. Zur Begründung schreibt einer: Ohne Zeitliches könne das Ewige schwer bestehen, und die Mönche müssten ihre Rechte verteidigen und wahren. Derselbe schreibt, dass der zum Ökonom, also der Verwalter der Güter von Mariazell, ausgesandte Mönch die Muttergottesstatue als Ansporn zur Frömmigkeit und Andacht mitgenommen habe, damit er nicht bei der größeren Freiheit, die er jetzt besaß, und der Beschäftigung mit weltlichen Dingen seine religiösen Pflichten vernachlässige….
Zelle hieß damals jede kleinere Mönchsniederlassung, die vom Mutterhaus aus gegründet wurde. Als Ortsnamen hat sich diese Bezeichnung häufig in unserer Heimat erhalten. Man denke an Zell am See, Klein-Zell, Klein-Mariazell und andere. In unserem Falle wurde Zell nicht nur der heutige Ort, sondern die ganze Gegend genannt….
Das Gründungsjahr von Mariazell ist manchmal angefochten worden, aber es ist ganz gleichgültig, ob es etliche Jahre früher oder später war, um viel handelt es sich nicht. Nach der Inschrift am Hauptportal der Kirche wurde im Jahre 1200 mit dem Kirchenbau begonnen.
Der Vorsprung, den Mariazell vor allen anderen österreichischen Wallfahrtsorten hat, dürfte nicht zuletzt auch auf das hohe Alter der Wallfahrt zurückgehen. Maria Taferl zum Beispiel ist um ein halbes Jahrtausend jünger. Von den bekannteren Wallfahrtskirchen sind nur Maria Saal und Maria Rain älter.
Wenn wir die Legende näher betrachten, können wir einige Gedanken daraus entnehmen, die auch für uns wertvolle Geltung haben. Magnus musste den vertrauten Kreis seiner Brüder verlassen und zuerst in die Einsamkeit von Aflenz und dann in die noch größere von Mariazell gehen. Er wollte nicht allein bleiben, da er wusste, wie schwer das ist, und so nahm er die Muttergottes mit. Vielleicht hat er die Statue selber geschnitzt. Dann ist der Grund für seine besondere Verbundenheit mit der Muttergottes leicht erklärlich. Er trug ihr Bild schon früher in sich, bevor er es aus Holz gestaltete.
Der religiöse Mensch trägt das Bild seiner großen Mutter allezeit in sich, und er trennt sich nicht davon. In der Not, in schwierigen und gefahrvollen Situationen hält er es um so stärker in seinem Herzen hoch und klammert sich daran. Maria begleitet ihn überallhin, sie ist ihm immer nahe.
Wir lieben es, die Muttergottes in schönen und würdigen Bildern zu verehren. Unsere Andacht wird dadurch bereichert und vertieft, nicht veräußerlicht. Wir beten nicht das Stück Holz an. Wir beten nicht einmal die Muttergottes an, weil wir genau unterscheiden zwischen Gott und Mensch. Nur Gott, eine der drei göttlichen Personen, den Vater, Jesus und den Heiligen Geist, beten wir an; die Heiligen verehren wir, das heißt, wir beten zu ihnen, dass sie Gott für uns bitten.
Maria ist keine göttliche Person, sondern sie bleibt trotz aller Vorzüge nur ein Mensch. Freilich ist sie die Erste unter den Heiligen. Gott hat sie um Seines Sohnes willen mehr als die anderen begnadet. Er liebt sie mehr und erhört sie lieber. Darum beten wir auch mehr zu ihr. Dieser Marienkult ist gerechtfertigt und vernünftig. Alle Übertreibung lehnen wir entschieden ab. Nicht das alte Stück Holz in Mariazell kann uns helfen, sondern immer nur Gott. Maria ist unsere Fürbitterin bei ihm. So ist unsere Andacht zur Mariazeller Muttergottes gemeint und nicht anders. Gewiss können wir die heilige Maria auch in anderen Bildern verehren. Sie ist überall dieselbe, sei es in Mariazell, in Lourdes oder in Fatima.
Wenn auch mit dem Ort das Bild wechselt, die Person ist überall dieselbe. Wie jedoch Gott durch Maria an den verschiedenen Orten irgendwie verschieden wirkt, das ist Sein Geheimnis, und soweit wir es erkennen, verehren wir es dankbar.
5. Kapitel unserer Maiwallfahrt nach Mariazell, die Reihe wird fortgesetzt
Quelle: "Mariazell - Das Heiligtum der Gnadenmutter Österreichs" von Franz Jantsch