Pius X. und das kostbare Erbe der Kirchenmusik

Das Jahr 2014 ist das große Jubiläumsjahr des Heimgangs des hl. Pius X. Ein Jahr der Besinnung darüber, wie man dem großen Erneuerungswerk des heiligen Papstes entsprochen hat. Was kann die Priesterbruderschaft von ihrem heiligen Patron lernen und in ihrem Apostolat umsetzen? Das Mitteilungsblatt sprach mit Dr. Johannes Laas, dem Schulleiter des St.-Theresien-Gymnasiums in Schönenberg und promovierten Musikwissenschaftler.

Mitteilungsblatt: Das erste große Reformdokument des Papstes nach seiner Erhebung auf den Stuhl Petri war ein Motu proprio („aus eigenem Antrieb") zur Musica sacra. Es wird nach den Anfangsworten „Tra le sollecitudini" (dt. „Die Sorgen des Hirtenamts") benannt und wurde am 22. November 1903, dem Fest der hl. Cäcilia, der Schutzpatronin der Kirchenmusik, veröffentlicht.

Wie war die kirchenmusikalische Situation im Jahr 1903, daß ein solches Schreiben notwendig war?

Dr. Johannes Laas: Pius X. stammte aus ärmlichen Verhältnissen und hat als Priester alle Stufen der Hierarchie durchlaufen, vom Kaplan bis zum Kardinal. Man kann davon ausgehen, daß er die Menschen und die Situation in der Kirche seiner Zeit sehr gut kannte. Was die Kirchenmusik anbelangt, sah er nicht nur Verbesserungswürdiges. Er erkannte in ihr sogar einen großen Mißstand. Zum Beispiel wurde nicht nur der Gregorianische Choral kaum gepflegt. Es war auch durchaus nicht unüblich, mit lateinischem Text versehene Opern- oder Operetten-Schlager in der Kirche zu Gehör zu bringen – von italienischen Musikkapellen ganz zu schweigen, die auch ziemlich weltliche Melodien im Kirchenraum aufführten. Dies war in Italien so, leider aber auch in vielen anderen Ländern. Es war das Problem einer überhaupt darniederliegenden Kirchenmusik, die kaum noch etwas mit der Liturgie zu tun hatte. In Deutschland spielte sich das zwar auf musikalisch höherem Niveau ab, Mißstände gab es aber auch hier.

MB: Welchen Bezug hatte Pius X. zur Musik?

Dr. Johannes Laas: Er war ein sehr musikalischer Mensch. Das ist vielleicht wenig bekannt. Mit fünfzehn Jahren war er in das Priesterseminar eingetreten. Hier übernahm er im letzten Studienjahr die Leitung des Kirchengesangs der Seminaristen. Wohl aus dieser Zeit stammen auch einige kleinere liturgische Vokalkompositionen Giuseppe Sartos. Er wird also auch ein wenig Klavier oder Orgel gelernt haben. Er spielte übrigens auch Fagott. Es gibt eine schöne Anekdote, die typisch für die Haltung und das Gottvertrauen des künftigen Heiligen ist. Als Kaplan lief Don Giuseppe immer mit einer ärmlichen Soutane herum. Man machte ihm deshalb Vorhaltungen, bis er sich endlich ein neues geistliches Gewand kaufen ging. In seiner Armut ging er zu einem Händler, suchte sich einen Stoff aus und handelte den Preis, soweit es ging, herunter. Dann nahm er sein Fagott in die Hand und sagte zum Händler: „Hören Sie, mein Herr, wie gut ich zu musizieren gelernt habe, seit ich Kaplan bin". Und er stimmte das Credo an. Und der Händler verstand und trug ohne Zögern die Noten des Credos anstelle des Preises in das Rechnungsbuch ein.

MB: Wann hat sein Reformprogramm Gestalt angenommen?

Dr. Johannes Laas: Die Kirchenmusik zieht sich wie ein roter Faden durch sein priesterliches Leben. An allen Orten, an denen er als Kaplan, Pfarrer, Domherr, Bischof und Kardinal wirkte, widmete er sich – verbunden mit der größten Sorge um die würdige Feier der Liturgie – der Musica sacra. Er sorgte sich um die Ausbildung des Klerus und unterrichtete selbst liturgischen Gesang. Auch nahm er an kirchenmusikalischen Kongressen teil und beschäftigte sich mit den Reformideen der Reformbenediktiner von Solesmes. Diese bemühten sich auf der Grundlage der überlieferten Handschriften um eine Restitution des Gregorianischen Chorals. Die Mönche gaben auch den „Liber usualis" heraus und entwickelten eine Methode, mit der der Choral für jedermann erlernbar ist. Die Arbeiten von Solesmes sollten Grundlage der „Vaticana", einer neuen Choralausgabe, werden. Sie wurde unter Pius X. später in Auftrag gegeben und wahrt eine kluge Balance zwischen wissenschaftlichem Anspruch und praktischen Anforderungen.



1893 schrieb Giuseppe Sarto an einen in Thiene (bei Padua) abgehaltenen Kongreß für Kirchenmusik: „Man empfehle den Gregorianischen Gesang und zeige die Art und Weise, wie er gepflegt und volkstümlich gemacht werden kann. Wenn es sich doch erreichen ließe, daß alle Gläubigen, wie sie die Lauretanische Litanei oder das ‚Tantum ergo' singen, auch die unveränderlichen Teile der Messe sängen ... Das wäre in meinen Augen der schönste Erfolg einer Pflege der Kirchenmusik, weil dann die Gläubigen an der Liturgie wirklich teilnehmen würden und weil Frömmigkeit und Andacht dadurch gefördert würden." Aus diesen Worten gehen schon die Leitmotive hervor, die später sein Wirken auch als Papst bestimmen sollten.

MB: Das Motu proprio hat also eine längere Vorgeschichte?

Dr. Johannes Laas: Bedeutend ist in diesem Zusammenhang der Hirtenbrief an den Klerus von Venedig von 1895. Er sollte die Grundlage des späteren Motu proprio von 1903 werden. Wesentliche Teile des Textes haben darin Eingang gefunden. Konkret ging es dem Kardinal-Patriarchen um nichts weniger als die Reinigung des katholischen Kultes von allem Profanen und Theatralischen. Damit sollte die Würde des Gotteshauses wiederhergestellt werden. Denn die heilige Handlung sei, wie es in dem Brief heißt, „durch die hemmungslose Leichtfertigkeit" der süßlichen Melodien dermaßen verweltlicht, daß der Kardinal sich nicht scheut, dies mit dem Vorwurf Christi zu vergleichen: „Ihr habt mein Haus zu einer Räuberhöhle gemacht."

MB: Das sind starke Worte.

Dr. Johannes Laas: Der spätere Papst scheute sich nie, seine Reformideen auch gegen Widerstände durchzusetzen. Schon als Bischof von Mantua hatte er 1887 die Musikkapelle des Domes durch die Choralschola der Seminaristen ersetzt. Damit hatte er sich sicher nicht nur beliebt gemacht. Doch die Reform der Musica sacra war und blieb ihm ein wichtiges Anliegen. An Lorenzo Perosi (1872–1956), den späteren Leiter der päpstlichen Kapelle, schrieb er: „Die Erneuerung der Kirchenmusik wird eine langwierige Sache sein; doch ich hoffe, daß ich nicht sterben werde, bevor ich sie verwirklicht sehe." Es war ihm klar, daß mit einer Reform der Kirchenmusik in das Herz der Liturgie eingegriffen wird. Er rechnete mit Widerstand und wußte: „In diesem Punkt werden wir kämpfen müssen."

MB: Warum gab es Widerstände gegen ein so ehrenvolles Anliegen?

Dr. Johannes Laas: Geben wir es zu: Kirchenmusik wird – damals wie heute – von vielen bloß als eine Art „Stimmungserzeuger" betrachtet. Das Gefühl, nicht der Geist, steht im Vordergrund. Dies geht aber am Wesen der Musica sacra vorbei. Pius X. geht es um die Ehre Gottes und die Heiligung und Erbauung der Gläubigen. Ihm geht es bei der Kirchenmusik also gerade nicht bloß um eine zu erzeugende religiöse Empfindung, sondern um die Heiligkeit und Würde des Gotteshauses und der in ihr gefeierten Mysterien. Aus dieser Quelle sollen die Gläubigen vorzugsweise ihre Heiligung schöpfen. Die Sorge um die Kirchenmusik ist Seelsorge.

MB: Kommen wir zum Motu proprio „Tra le sollecitudini" von 1903. Wie ist es aufgebaut? Kann man es auch heute noch gut lesen?

Dr. Johannes Laas: Das Motu proprio Pius' X. besteht aus einer Einleitung und neun Kapiteln. Diese unterteilen sich in insgesamt 29 Absätze. In ihnen werden alle wesentlichen Fragen der Musica sacra erörtert: zunächst allgemeine Grundsätze, sodann die Arten der Kirchenmusik, der liturgische Text, die äußere Form kirchenmusikalischer Werke, die Sänger, die Orgel und die Musikinstrumente, der Umfang der liturgischen Musik und schließlich konkrete Maßnahmen zur Umsetzung der Reform. Zusammenfassend kann man sagen: Der Heilige hat einen wirklichen Leitfaden für Praxis und Theorie der Musica sacra herausgegeben, dessen Lektüre sich auch heute noch sehr lohnt. Zugleich hat er wesentliche Anstöße zu einer Theologie der Kirchenmusik gegeben.

MB: Wie verbindlich waren die Aussagen des Motu proprio?

Dr. Johannes Laas: Das Motu proprio versteht sich ausdrücklich als „Gesetzbuch", das seinerzeit das Kirchenrecht ergänzte. Es hatte Rechtskraft. In seinen wesentlichen Aussagen ist es für die katholische Liturgie nach wie vor gültig.

MB: Was sind die wesentlichen Aussagen des Motu proprio, die für uns heute noch Gültigkeit haben?

Dr. Johannes Laas: Pius X. hebt erstens hervor, daß die Kirchenmusik ein „wesentlicher Bestandteil" der feierlichen Liturgie ist. Zweitens wird die „lebendige Teilnahme" der Gläubigen an der Liturgie als „erste und unentbehrliche Quelle" für das Wiederaufleben christlichen Geistes bezeichnet. Diese Worte haben eine nicht zu unterschätzende Tragweite und sind offiziell-kirchlich so noch nicht geäußert worden.

MB: Welche Folgen haben diese Aussagen?

Dr. Johannes Laas: Nehmen wir zum Beispiel das Singen: Der liturgische Gesang ist nicht nur Teil der Liturgie, er ist selbst Liturgie. Die Sänger üben, wie Pius X. sagt, ein „echtes liturgisches Amt" aus. Dies betrifft auch die Gläubigen, insofern sie die ihnen zukommenden Teile singen. Es versteht sich von selbst, daß es nicht gleichgültig sein kann, was dabei gesungen wird. Die Kirchenmusik muß die Eigenschaften der Liturgie atmen. Das gilt natürlich auch für alle anderen Arten der Kirchenmusik. Ich habe einmal erlebt, wie ein guter Organist im Rahmen der Alten Messe mitten im Sommer einmal zur Kommunion eine barocke Orgelparaphrase über ein bekanntes Adventslied spielte. Darauf angesprochen, ob das nicht etwas unpassend sei, meinte er, es sei doch ein schönes Stück, und das merke doch sowieso keiner ...

MB: Die Kirchenmusik wird von Pius X. doch aber auch als „Schmuck" bezeichnet. Ist so etwas denn wesentlich?

Dr. Johannes Laas: Wichtig ist, daß Kirchenmusik nicht bloß „Schmuck" im Sinne von ornatus ist, sondern von decorus im Sinne dessen, was sich für eine Sache ziemt. Pius X. führt aus, daß an die Kirchenmusik die besondere Forderung ergehe, dem liturgischen Text „eine größere Kraft zu verleihen, damit die Gläubigen dadurch leichter zur Frömmigkeit angeregt werden und ihr Herz besser auf die Erlangung der Gnadenfrüchte vorbereiten, die ihnen durch die Feier der göttlichen Geheimnisse zuteil werden". Mit anderen Worten: Durch eine „schlechte" Kirchenmusik, so der Umkehrschluß, wird also nicht nur die Schönheit der Liturgie weniger entfaltet, nicht nur die Ehre Gottes geschmälert, sondern auch die Heiligung der Gläubigen massiv erschwert. Der Kampf für die Kirchenmusik ist also ein Kampf um die Wirkung der Liturgie, ein Kampf um die Heiligung der Welt, ein Kampf um das menschliche Seelenheil.

MB: Was fordert der Heilige von der Kirchenmusik?

Dr. Johannes Laas: Er sagt, daß die Kirchenmusik die Eigenschaften der Liturgie besitzen muß, nämlich die „Heiligkeit" und die „Güte der Form". Daraus erwachse von selbst ein drittes Merkmal: die „Allgemeinheit". Mit Heiligkeit meint er die Abwesenheit alles Weltlichen, sowohl musikalisch als auch von der Art des Vortrags. Mit der Güte der Form verlangt er von kirchenmusikalischen Werken, „wahre Kunst" zu sein. Der Begriff der Allgemeinheit fordert, daß die Qualität der Musik auch über die Eigenart der Völker hinweg ihre Wirkung entfalten kann.

MB: Was meint er damit konkret? Hat er eine bestimmte Musik vor Augen?

Dr. Johannes Laas: Pius X. bezieht sich vor allem auf den Gregorianischen Choral, das musikalische Erbe der Römischen Kirche. In ihm sieht er idealtypisch die Verbindung von Musik und priesterlicher Handlung verwirklicht. Gregorianischer Choral als Vorbild aller Kirchenmusik ist eben die Musik der Liturgie, nicht in oder zur Liturgie. Mit ihm wird gegenüber der „Stangenware" frei wählbarer Lieder oder Stücke jedem liturgischen Anlaß gleichsam eine Art Maßanzug angelegt, wie Dr. Gabriel Maria Steinschulte es einmal schön formulierte.

MB: Und hinsichtlich der mehrstimmigen Musik?

Dr. Johannes Laas: Pius X. erblickte im Choral Maßstab und Vorbild auch aller polyphonen Kirchenmusik. In dem italienischen Komponisten G. P. d. Palestrina (1514–1594) sah er dieses Ideal vorbildlich verwirklicht, insofern er das von Pius X. aufgestellte allgemeine Gesetz erfüllt: „Eine Kirchenkomposition ist um so mehr kirchlich und liturgisch, je mehr sie sich, in ihrer Anlage, ihrem Geist und ihrer Stimmung, dem Gregorianischen Gesang nähert; umgekehrt ist sie um so weniger des Gotteshauses würdig, je weiter sie sich von diesem Vorbilde entfernt."

MB: Darf man also nur Choral und Palestrina singen?

Dr. Johannes Laas: Natürlich nicht. Zwar sollte man den Choral und die klassische Vokalpolyphonie besonders pflegen. Pius X. und seine Nachfolger waren aber gegenüber jeder, auch zeitgenössischer, Kirchenmusik vollkommen aufgeschlossen, sofern sie dieses eben zitierte Gesetz erfüllte. Schon sein Kardinal-Staatssekretärs Merry del Val bemerkte, daß Pius X. keineswegs die örtlichen oder nationalen Überlieferungen einfach beiseiteschob, vorausgesetzt, daß man sich gewissenhaft an das Grundprinzip hielt, der Kirchenmusik ihren liturgischen, religiösen und künstlerischen Charakter zu erhalten. Was heute an Kirchenmusik auf Katholikentagen und Weltjugendtagen geboten wird, stellt demgegenüber einen echten Rückfall vor das Motu proprio Pius' X. dar, als ob es dieses nie gegeben hätte. Vom neuen „Gotteslob" der deutschen Bistümer wollen wir hier lieber schweigen.

MB: Wer beurteilt denn, ob dieses Gesetz erfüllt ist?

Dr. Johannes Laas: Auch daran hatte Pius X. gedacht. Er schreibt vor, daß die Bischöfe in ihren Diözesen eine Kommission von „gründlichen Kennern der Kirchenmusik" einsetzen sollen. Diese Fachleute sollen das Musikleben der Diözesen begutachten. Sie sollen aber nicht nur auf die Auswahl der Kompositionen achten, sondern auch auf die den Kräften der Sänger entsprechenden Aufführungen. Es ist zu wünschen, daß auch in den Gemeinschaften der Tradition dieses Amt klug wahrgenommen werde. Es ist wesentlicher Teil der Hirtensorge.

MB: Verdrängt der Choral nicht das schöne und so reichhaltige deutsche Liedgut?

Dr. Johannes Laas: Gerade die deutsche Tradition hält einen großartigen Schatz an Kirchenliedern bereit. Diese müssen natürlich gepflegt werden. Oft beinhalten sie schöne Melodien und tiefe Glaubenswahrheiten, die sich dem Gedächtnis lebenslang einprägen. Zur Pflege des Kirchenlieds gibt es viele Gelegenheiten, zum Beispiel in Betsingmessen an Werktagen oder im sogenannten „Deutschen Hochamt" an kleineren Festen, in Andachten, Prozessionen sowie vor und nach den Hochämtern und, wo es Brauch ist, auch zur Predigt. In der Regel ist die Dopplung von Choralgesang und deutschen Lied aus zeitlichen und ästhetischen Gründen nicht sinnvoll. Im Zweifel ist dem Choral der Vorzug zu geben. Es muß klar sein, daß es bei der Frage der feierlichen Liturgie nicht darum gehen kann, sich quasi eine Messe musikalisch nach seinem persönlichen Geschmack zusammenzustellen. Die Hierarchie der Feierlichkeit mit der jeweiligen Art ihrer musikalischen Ausgestaltung ist von der Kirche übrigens genau definiert worden. Hierzu gibt es zum Beispiel eine Instruktion der Ritenkongregation von 1958. Mit Bezug auf den deutschen Sprachraum existiert noch ein recht wertvolles Schreiben der deutschen Bischöfe von 1961. Beide Dokumente sind in unseren Kreisen so gut wie vollkommen unbekannt, obwohl sie sich doch auf den überlieferten Ritus beziehen.

MB: Was ist aber, wenn die Gregorianik den Leuten einfach nicht gefällt?

Dr. Johannes Laas: Wir müssen uns mit Pius X. vor Augen halten, daß die Frage der rechten Kirchenmusik keine Frage des „Geschmacks" ist. Vielleicht sollte man in diesem Zusammenhang an ein Wort aus dem Hirtenbrief von 1895 erinnern: „Ob etwas gefällt oder nicht, war noch nie das richtige Kriterium für die Beurteilung sakraler Dinge; das Volk soll nicht in unrichtigen Auffassungen bestärkt, sondern erzogen und belehrt werden." Von diesem Anliegen ist auch das Motu proprio durchdrungen, das ist ein klarer Auftrag.

MB: Inwiefern kann der hohe Anspruch, den Pius X. aufstellt, in kleineren Gemeinschaften überhaupt umgesetzt werden?

Dr. Johannes Laas: Es geht zunächst einmal darum, das Grundprinzip im Auge zu behalten. Die Reform Pius' X. greift natürlich dort ein, wo starke Mißstände auszumerzen sind. Ansonsten will er das Musikleben in den Diözesen gleichsam von unten neu aufbauen, zum Beispiel durch gute Schulungen in den Priesterseminaren.

MB: Richtet sich das Motu proprio also nur an den Klerus?

Dr. Johannes Laas: Keineswegs. Das Ziel Pius' X. ist es, den Gregorianischen Gesang auch beim Volk wieder einzuführen. Die Gläubigen sollen am kirchlichen Gottesdienst lebendig Anteil nehmen können, „so wie es früher der Fall war". Mit anderen Worten: Die Gläubigen sollen die ihnen zukommenden Teile der Messe singen und damit selbst liturgisch tätig sein. Sie verbinden sich so wahrhaft liturgisch mit dem Opfer des Priesters. Hier wird der Einfluß der wahren liturgischen Erneuerungsbewegung aus dem Geist des benediktinischen Mönchstums auf Pius X. deutlich. Zugleich gab er damit der authentischen Liturgischen Bewegung entscheidende Impulse.

MB: Ist man nur als singender Katholik ein guter Katholik?

Dr. Johannes Laas: Es ist die Überzeugung der Väter, daß das Singen ein Ausdruck der Liebe ist: „Cantare amantis est", sagt der hl. Ambrosius. Darüber hinaus heißt es: „Christus in Ecclesia cantat" – Christus ist der erste Sänger der Liturgie. Von ihm geht alles liturgische Handeln aus. Indem wir uns mit den überlieferten Gesängen vereinen, verbinden wir uns mit unserem Herrn und Heiland. Schön deutlich wird dies beispielsweise, wenn der Priester als „alter Christus", als zweiter Christus, etwa das Gloria oder Credo anstimmt und dieser Gesang von der Schola und dann vom ganzen Volk aufgenommen und gleichsam in die gesamte Schöpfung weitergegeben wird. Abgesehen davon manifestiert sich in der Schönheit ja das Göttliche. „Die Musik ist im Himmel erfunden worden", sagt die hl. Hidegard von Bingen. „Wenn der Mensch musikalisch ist, dann durch eine Offenbarung des Heiligen Geistes". Insofern sich in der heiligen Messe Himmel und Erde berühren, macht Musik als Abglanz des ewigen Lobgesangs der Engel das, wozu wir berufen sind, vorausverkostend schon jetzt sinnlich erfahrbar. Natürlich gibt es auch andere Weisen für die Gläubigen, sich mit dem Kreuzesopfer des Herrn zu verbinden. Aber man sollte doch wenigstens zur Kenntnis nehmen, was uns der heilige Pius X. so dringlich ans Herz legt.

MB: Sie sind Schulleiter und Musiklehrer an einer Schule der Priesterbruderschaft und leiten selbst in einem Priorat die Choralschola. Wie sieht nach Ihrer Wahrnehmung die kirchenmusikalische Situation in der Bruderschaft aus?

Dr. Johannes Laas: Allgemein steht in den Priesterseminaren der Bruderschaft, so wie Pius X. es wollte, der Gregorianische Choral musikalisch im Vordergrund. Ihn zu fördern, bildet für die Priester der Bruderschaft eine Selbstverständlichkeit. Dafür müssen wir ihnen sehr dankbar sein. Auf hohem Niveau gepflegt wird die Kirchenmusik in den Schulen der Bruderschaft. Sie bilden ein wichtiges Mittel für die Verbreitung der Anliegen der Tradition: Kinder und Jugendliche müssen von Anfang an, im Elternhaus, in den Grundschulen, an Gregorianik und Polyphonie herangeführt werden. Es gibt die KJB-Chorwoche, gegründet vom 2007 tödlich verunglückten Pater Bruno Isenmann, die in großartiger Weise und auf höchstem Niveau von Pater Leonhard Amselgruber fortgeführt wird. Die Schönenberger Sommerakademie für Studenten und Jungakademiker, die von den Eheleuten Dr. Heinz-Lothar und Raphaela Barth 1996 ins Leben gerufen wurde, bietet auch immer eine Möglichkeit, den Gregorianischen Choral in Messe und Teilen des Offiziums intensiv zu erleben und zu singen. Insgesamt denke ich, daß es unter den Gläubigen der Priesterbruderschaft eine recht große Wertschätzung der Musica sacra gibt. Das zeigt sich schon daran, daß, wo immer es möglich ist, in der Regel Choralscholen gegründet werden, um die Liturgie würdig zu singen. Was die Orgeln betrifft, so existieren in vielen Kapellen leider vielfach mangelhafte Instrumente. Auch spiegeln viele elektronische Orgel eher den provisorischen Charakter vieler Meßzentren wider. Sie erscheinen ohnehin eher als Ausdruck der Not, genügen aber selten den Ansprüchen an Schönheit und entsprechen auch nicht den Anliegen Pius' X.

MB: Sonst gibt es gar keinen Verbesserungsbedarf?

Dr. Johannes Laas: Doch, natürlich. Ich denke, daß die Pflege des überlieferten Schatzes der Musica sacra eines der wichtigsten Mittel des Apostolats ist. Von daher besteht hier eine besondere Pflicht dazu. Dazu bedarf es letztlich ausgebildeter Fachkräfte. Das Engagement so vieler Laien für die Kirchenmusik ist natürlich hoch zu loben, und wir können dafür sehr, sehr dankbar sein. Eine Kirchenmusik, die fast flächendeckend von liturgisch-musikalischen Laien ausgeübt wird, wird aber häufig nicht diese von Pius X. geforderte Qualität und Wirkung entfalten können. Ich hoffe, daß wir langfristig dahin kommen können, ebenso gut ausgebildeten wie frommen Kirchenmusikern, die in Deutschland ja bis zu sechs Jahre studieren, auch Stellen an den Prioraten zu bieten. Zu tun gäbe es hier genug. Die Priorate könnten so zu wahren Kraftquellen der Erneuerung der Musica sacra werden. Was den Kirchenbau, die Ausstattung, den Ornat des Priesters oder die Altarwäsche anbelangt, ist man da wesentlich weiter. Nicht allen bewußt ist, daß die Kirchenmusik in der Hierarchie der Künste an oberster Stelle steht. Hingegen wird sich um die Musik häufig zuletzt gekümmert.

MB: Was kann man noch tun, um die Qualität konkret zu verbessern? Wie kann man überhaupt den Gregorianischen Choral verbreiten, wenn es keine örtliche Tradition dafür gibt?

Dr. Johannes Laas: Nach meiner langjährigen Erfahrung als Scholaleiter in den Prioraten Berlin und Bonn braucht es vor allem folgende Dinge: Konstanz, Konsequenz, Bildung und Freundschaft. Konstanz: Entscheidend ist zunächst, daß der Choral im feierlichen Amt regelmäßig gesungen wird, nach Möglichkeit immer vollständig an jedem Sonn- und Feiertag. Der Choral darf nicht zur Disposition stehen. Nur so können sich die Gläubigen daran gewöhnen und die Kinder da selbstverständlich hineinwachsen.

MB: Wie geht man vor, wenn das noch gar nicht der Fall ist?

Dr. Johannes Laas: Natürlich braucht es einen guten Scholaleiter, der in der Lage ist, einige Sänger regelmäßig um sich zu scharen. Und: Ohne Proben geht es nicht, es kostet natürlich Zeit. Sodann ist es sinnvoll, mit wenigen Gesängen anzufangen. Zunächst sollten verschiedene Ordinariumsgesänge für die verschiedenen Zeiten des Kirchenjahres einstudiert werden, die zwischen Schola und Volk abwechselnd gesungen werden. Dann kann man sich zunächst auf den Gesang von Introitus und Communio konzentrieren und von dort aus das Repertoire über die Jahre hinweg stetig erweitern. Wichtig hier ist ein langer Atem. Rom wurde auch nicht an einem Tag erbaut.

MB: Vielleicht muß man da auch mit Widerstand rechnen?

Dr. Johannes Laas: Hier kommen wir zum Punkt Konsequenz. Es ist wohl nicht möglich, die Anliegen Pius' X. umzusetzen, wenn man es immer allen recht machen will. Bei manchen Leuten gibt es in der Tat eine gewisse Opposition aus Unwissenheit und Ignoranz gegenüber der Kirchenmusik, und es zählt nur, „wie es bei uns immer schon gemacht worden ist". Entscheidend ist aber, wie es vielleicht immer schon hätte gewesen sein sollen. Pius X. kannte alle diese Einwände gegen die Einführung des Gregorianischen Chorals nur zu gut. In seinem Motu proprio bestimmt er sogar: „Alle mögen davon überzeugt sein, daß der Gottesdienst nicht an Glanz verliert, auch wenn er nur von dieser Musikart begleitet wird." Dazu muß sich das Ohr natürlich an die Weisen gewöhnen. Nebenbei: Meiner Ansicht nach ist es ein Fehler, das Proprium regelmäßig mit Orgel zu begleiten. Dadurch werden die modalen gregorianischen Gesänge in unser dur-moll-tonales Empfinden eingebettet, und wir verlieren das Gespür für die ganz eigenartige Feierlichkeit und Differenziertheit der alten Weisen. Gregorianik – und ein Orgelspiel, das sich den modalen Charakter des Chorals zum Vorbild nimmt – gilt dann häufig als „traurig". Das Gegenteil ist der Fall. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, wenn ich sage: Ich liebe Mozart, seine Messen sind herrlich, aber seine Musik ist nicht der letztgültige Maßstab liturgischer Kirchenmusik.

MB: Wie lernt man singen?

Dr. Johannes Laas: Dadurch, daß man es tut und Leute hat, mit denen man es kann und die einem zeigen, wie es geht. Freilich brauchen wir dafür Bildung durch Schulungen. Das fängt bei der Aussprache an, geht über sängerische Fähigkeiten und die Technik des Dirigats und schließt das Studium liturgischer Vorgaben mit ein. Es gibt im französischen Distrikt das „Centre Saint Pie X" für Gregorianik, das in dieser Richtung vorbildlich wirkt und angehenden Scholaleitern die praxiserprobte Methode von Solesmes vermittelt. Es wäre ein Anfang, wenn wir in den Distrikten regelmäßige Schulungen auf unterschiedlichen Niveaus anbieten könnten. Wir haben ja die Exerzitienhäuser, die auch Schulungshäuser für den Choral werden könnten. Auf der unteren Ebene wären Angebote wie ein „Offenes Singen" von Gregorianik nützlich. Hier kann man zum Beispiel mit der Gemeinde das Ordinarium üben. Nichts anderes hat der große „Apostel des Volkschorals", der unermüdliche Pater Gregor Schwake OSB (1892–1967) getan, wenn er durch die Lande gereist ist und in den Pfarreien den Choral einstudiert hat. Oder man denke an die große amerikanische Musikpädagogin Justine Bayard Ward (1879–1975), die durch das Motu proprio zum katholischen Glauben kam und eine staunenswerte Methode entwickelt hat, bei Grundschulkindern wahre Freude und Begeisterung für das Singen gerade auch des Chorals zu wecken. Diese ganz praktischen Ansätze, die mit der Liturgiereform auf der Strecke geblieben sind, gilt es wiederzuentdecken.

MB: Haben Sie weitere Ideen?

Dr. Johannes Laas: Wünschenswert wären zum Beispiel auch Fortbildungsangebote für das liturgische Orgelspiel. Es erscheint doch fragwürdig, wenn gar nicht so wenige in unseren Reihen Orgel lernen, aber kaum Lieder aus dem Stand begleiten, transponieren oder ein wenig improvisieren können. Meines Wissens fordert Erzbischof Lefebvre in den Statuten der Bruderschaft sogar das Erlernen des Orgelspiels für die Seminaristen. Auch müßte man das liturgisch-musikalische Wissen vergrößern. Ein Handbuch für die vielen Laien, die als Scholaleiter und Organisten tätig sind, täte dringend not, ein auf den Alten Ritus ausgerichtetes Buch, in dem man nachschlagen kann, wann etwa die Orgel während der Messe oder im Kirchenjahr zu schweigen hat, was ein „Deutsches Hochamt" genau ist oder warum man im levitierten Amt keine deutschen Lieder spielen darf. Auch eine stärkere Vernetzung aller im Alten Ritus tätigen musikalischen Laien wäre anzustreben, etwa durch regelmäßige Rundschreiben und Tagungen. Es gilt, einer weit verbreiteten musikalischen Beliebigkeit entgegenzuwirken. Wichtig aber erscheint es, bei den jungen Leuten anzusetzen. Eine Schulung sollte sich gerade auch an die jungen Leute im Distrikt wenden. So wie jeder katholische Junge das Ministrieren erlernen sollte, so wie alle jungen Leute den Katechismus kennen sollten, so sollten die Priester versuchen, jeden Jugendlichen, ja sogar die Kinder mit dem Choral in Kontakt zu bringen. Die schon 1893 geäußerte Vision Pius' X. sollte auch unser Ziel sein: das Singen einer Messe aus tausend Kehlen.

MB: Sie sprachen noch von „Freundschaft". Was meinen Sie damit?

Dr. Johannes Laas: Meiner Erfahrung nach ist das regelmäßige Singen und Hören des Gregorianischen Chorals eine unglaublich reichliche Quelle zur geistlichen Durchdringung der Liturgie. Eine Gemeinschaft von Choralsängern hilft wirklich, die Liturgie tiefer zu durchdringen. Und zwar von Jahr zu Jahr mehr. Die Gregorianik bietet eine solche Fülle, aus der nie genug geschöpft werden kann. Und es wird wirklich nie langweilig, Choral zu singen. So kann eine regelmäßig probende Schola auch ein Ort von Begegnung, von geistlicher Freundschaft und geistlicher Freude sein, aber auch von Geselligkeit. Ich habe das jedenfalls bisher immer so erlebt. Von daher kann ich als einfacher Gläubiger nur einen Appell formulieren: Engagieren Sie sich in den Meßzentren, den Kapellen und Prioraten als Sänger! Bieten Sie sich dem zuständigen Priester als Sänger an! Kommen Sie, wenn Schulungen angeboten werden! Überall entdeckt man schlummernde Talente. Die Priesterbruderschaft hat den hl. Pius X. zu ihrem Patron gewählt, weil er dieses Programm, „alles in Christus zu erneuern", in vorbildlicher Weise umgesetzt – und dabei mit der Kirchenmusik angefangen hat. Nehmen wir traditionstreuen Katholiken ihn doch als Vorbild und wahren Lehrer.

MB: Herzlichen Dank für das Gespräch.

Dr. Johannes Laas, geb. 1972 in Berlin, studierte Musik, Germanistik und Erziehungswissenschaft. 1997/98 Aufenthalt in Rom. 2001–2007 Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Musikwissenschaft an der Universität der Künste Berlin. Anschließend Referendariat und Schuldienst. Daneben Lehrbeauftragter für Historische Musikwissenschaft an der Kölner Musikhochschule. In seiner Dissertation beschäftigt er sich mit den Auswirkungen der Reformen des Zweiten Vatikanischen Konzils auf den Komponisten Max Baumann (1917–1999) und die zeitgenössische Kirchenmusik. Er leitet die Choralschola am Bonner Priorat Christ-König. Seit 2013 ist er Schulleiter am Sankt-Theresien-Gymnasium in Schönenberg. Er ist verheiratet, hat drei Kinder und lebt mit seiner Familie in Schönenberg.