Die Wallfahrt als Hilfsmittel, um die Gegenwart Gottes zu erfahren

Quelle: Distrikt Österreich

Hauptportal der Basilika in Mariazell

Selbstverständlich kann sich der religiöse Mensch überall unmittelbar zu Gott wenden  und braucht dafür eigentlich kein Hilfsmittel. Dieser rein geistige Kult ist sicherlich das letzte und höchste christliche Ideal. Anderseits muss die menschliche Natur in ihrer leib-seelischen Gebundenheit berücksichtigt werden. Der Mensch steigt langsam und mittelbar zu einer immer größeren Höhe und Geistigkeit der Gottesanbetung empor, wenn er für sein seelisches und religiöses Wachstum sorgt. 

Ähnlich den Fragestellungen gegenüber der Wallfahrt sind jene des Bittgebetes. Letztlich könnte man sagen, dass es überflüssig wäre, den Vater um etwas zu bitten, da Er genau alle unsere Bedürfnisse und Notwendigkeiten kennt. Und doch hat auch Jesus uns erlaubt, ja sogar angewiesen, den himmlischen Vater um alles zu bitten, auch um die irdischen Dinge. Im Vaterunser hat Er uns selbst gelehrt, um das tägliche Brot zu beten. Dass Jesus der leib-seelischen Natur des Menschen entgegengekommen ist, ja noch mehr, dass Er das „Materielle“ nicht verachtet, zeigt Er durch die Einsetzung der Eucharistie, wo Stoffliches — Brot und Wein — zum Träger göttlicher Wirklichkeit wird. Die Sakramente selber besagen nichts anderes, als dass Leib und materielle Welt nicht etwas Böses oder Gottfeindliches sind, sondern  dass sie Hilfe für den Menschen bedeuten und der Verklärung fähig sind. Die letzte Rechtfertigung alles Materiellen überhaupt ist die Tatsache der Auffahrt Jesu in den Himmel mit dem verklärten Leibe und Seine Wiederkunft am Ende der Zeiten, da Er nicht, wie manche glauben, die Welt einfach auflösen und die Materie vernichten, sondern sie umwandeln und verklären wird. Jeder reine Spiritualismus (Geistlehre) ist letztlich ebenso unchristlich wie ein vom Religiösen losgelöster Materialismus.

Die Wallfahrt zu den Gräbern der Heiligen ist gerechtfertigt, denn ihre Leiber sind zur Auferstehung und Verklärung bestimmt. Unsere Verehrung der heiligen Bilder ist gerechtfertigt, wenn wir wissen, dass wir nicht Holz, Leinwand oder Stein anbeten, sondern uns durch die Bilder mit der jenseitigen Welt vereinigen. Alles kann uns Hilfsmittel, Brücke zu Gott werden. Wenn uns ein altes Gnadenbild geheimnisvoll berührt und das Herz für Gott öffnet, dann können wir es mit Recht verehren.

Gewiss können wir Gott überall anbeten. Wir brauchen — richtig verstanden — nicht einmal eine Kirche dazu. Wir brauchen nur die Augen zu schließen und an Ihn zu denken, Ihn zu lieben, dann sind wir schon in Seiner Nähe. Aber wenn es uns Hilfsmittel erleichtern, wenn sie uns erfahrungsgemäß besser mit Gott in Verbindung bringen, dann ist nichts dagegen zu sagen, auch von Gott her nicht; ja, wir müssen uns dann sogar zu unserem eigenen Heil solcher Hilfsmittel bedienen. Es ist merkwürdig und rätselhaft, dass wir an bestimmten Orten Gottes Gegenwart stärker spüren, dass wir dort leichter zu Ihm finden. Doch die ganze Welt ist ja von Gott nur geschaffen, um uns Brücke zu ihm zu sein. Gott ist uns in Jerusalem im Grunde genommen nicht näher als auf dem Nordpol. Aber wenn wir uns in Jerusalem in der Grabeskirche Ihm näher fühlen, dann dürfen wir dorthin gehen, um Ihn anzubeten. Es wird uns stärken.

Geheimnisvoller ist das Ganze, wenn man es von Gott her betrachtet. Letztlich ist ja Er es, der die Gnadenorte auswählt und dort Seine Kraft offenbart. Warum pilgern so viele Menschen in unserer Zeit nach Lourdes? Weil dort wie nirgends sonst viele und große Wunder geschehen. Gewiss sind diese einerseits hervorgerufen durch den großen Glauben der Pilger, die dort zusammenströmen, aber anderseits ist es keine Frage, dass es irgendwie an dem Ort und an der Gnadenstätte liegt, dass dort mehr Wunder geschehen als anderswo. Die Millionen Pilger, die hinkommen, sind Beweis dafür, dass den Geschehnissen ganz reale Tatsachen zugrunde liegen.

So ist es auch müßig zu fragen, warum gerade Mariazell das geworden ist, was es ist. Warum das Gnadenbild von Mariazell anscheinend eine größere Kraft hat als andere. Diese Dinge sind unwägbar, und es hat nicht viel Sinn, darüber zu reden. Letztlich ist alles ein Geheimnis der Gnade und wir müssen die Gegebenheiten dankbar und glücklich hinnehmen.

3. Kapitel unserer Maiwallfahrt nach Mariazell, die Reihe wird fortgesetzt  

Quelle: "Mariazell - Das Heiligtum der Gnadenmutter Österreichs" von Franz Jantsch