Die Erbschuld
5. Teil der Adventbetrachtungen aus dem Buch "Auf dem Weg nach Bethlehem" (mit freundlicher Genehmigung des Autors, P. Michael Gurtner)
Nachdem zuletzt von der Unbefleckten Empfängnis gesprochen wurde, sollten wir heute noch etwas näher betrachten, was diese Erbschuld denn genau sei, von welcher die Gottesmutter bewahrt wurde und von welcher wir durch den Heiland befreit wurden. Nachdem von der Erbschuld in Bezug auf die Madonna die Rede war, wollen wir heute dies besonders im Hinblick auf uns Menschen tun, um die Menschwerdung Gottes und deren Finalität besser verstehen zu können. Hinsichtlich der Erbschuld besteht nämlich ein wesentlicher Unterschied zwischen der Madonna und den restlichen Menschen. Während Maria durch Gnade von der Erbschuld bewahrt wurde, werden wir durch die Taufe von der Erbschuld befreit – ein wesentlicher Unterschied, den es mitzudenken gilt!
Durch die Ursünde der Stammeltern, welche im Ungehorsam gegenüber Gott bestand und dieser wiederum in dem Bestreben begründet lag, die Stellung des Schöpfers einnehmen zu wollen, gingen sie der heiligmachenden Gnade verlustig. Sie verloren dadurch die spezifische Verbindung mit Gott, welche in der Teilhabe an Seinem göttlichen Leben bestand. Diese Teilhabe ist die Grundbestimmung des Menschen, setzt allerdings einen vollkommen reinen Seelenzustand voraus. Die Erbschuld sowie die persönlichen Sünden verletzen diese seelische Jungfräulichkeit und verhindern, dass sich diese unsere menschliche Grundbestimmung verwirklichen kann. Es bedarf vorher des göttlichen Gnadenwirkens (Erlösungstat, Sakramente), bzw. der Reinigung im Purgatorium, dem Fegfeuer. Da das Verhalten der Stammeltern konstitutiv für das gesamte Menschengeschlecht war, ging die begangene Schuld auch auf alle nachfolgenden Menschen über, bis zum heutigen Tag. Die heilige Taufe tilgt die Erbschuld vollkommen und stiftet jene Verbindung mit Gott, welche durch die Ursünde verlorengegangen war. In Maria war keine Tilgung der Erbschuld nötig, weil sie von ihrem Daseinsbeginn an von dieser bewahrt worden war.
Wenn wir also von der Erbschuld sprechen, so unterscheiden wir zwischen der Erbschuld der Stammeltern, welche eine persönliche Schuld war, und der Erbschuld, welche von diesen ausgehend durch Vererbung auf uns übergegangen ist. Während erstere aktiv durch die Stammeltern begangen worden ist und deren Sünde die Erbschuld hervorgebracht hat (peccatum originale originans), ist zweitere folglich passiv und ohne eigener persönlicher Schuld empfangen worden (peccatum originale originatum).
Wenn wir der Erbschuld Wesen und Wirkung näher beleuchten wollen, dann müssen wir dies im Vergleich mit dem Urzustand tun, und deshalb haben wir prinzipiell zwei Möglichkeiten, wie wir uns dem Thema theologisch annähern können: den Weg über Adam und den Weg über Maria. An dieser Stelle wollen wir ersteren wählen.
Der Mensch war in seinem Urzustand zunächst mit der heiligmachenden Gnade erfüllt, er war daher heilig und gerecht. Die Gnade gehört ebensowenig wie die Sünde zum Wesen des Menschen (auch die Erbschuld ist entgegen der weitverbreiteten Meinung nicht zum menschlichen Wesensbestandteil geworden, auch wenn sie alle Menschen betrifft. Ansonsten wäre der Mensch nicht Mensch, wenn er nicht sündigen würde!). Sünde und Gnade sind insofern untereinander verbunden, als dass sie in Wechselwirkung stehen: die Sünde ist in letzter Konsequenz nichts anderes als das schuldhafte Verursachen der Gnadenminderung.
Die Stammeltern waren ursprünglich mit dieser heiligmachenden Gnade dermaßen ausgestattet, daß sie Anteil hatten an der göttlichen Natur. Anders ausgedrückt: sie waren heilig, weil sie Gottes direkte Schöpfung in Seiner Ebenbildlichkeit waren. Diese übernatürliche Gabe fand ihren leiblichen Ausdruck in der Integrität, d.h. in der leiblichen Unversehrtheit des Menschen, durch welche seine Sinne, auch seine Verstandes- und Auffassungsgabe voll ausgebildet und durch nichts beeinträchtigt war. Das ist im Übrigen, wenn wir von da aus einen Blick auf die Gottesmutter werfen, ein starkes spekulatives Argument dafür, daß deren allzeitige und ewige Jungfräulichkeit ebenso ihren leiblichen Ausdruck fand.
Konkret bedeutet die urständliche Integrität vollkommene Freiheit und daher auch einen vollkommenen Willen, der noch nicht von der Konkupiszenz beschadet war, Freisein von jeglichem Unglück und Leid, sowie Vollkommenheit der Erkenntnis, soweit sie dem Menschen prinzipiell zugedacht war. Adam wusste nach Gen 2,17, was die Konsequenzen sind wenn er Gottes Verbote übertritt: „vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse darfst du nicht essen; denn sobald du davon isst, wirst du sterben“. Diese und jede andere Erkenntnis stammt von Gott selbst – sie ist ein von Gott eingegossenes Wissen, welches irrtumsfrei war und keinen Zweifel kannte, weil beides nicht vereinbar mit der Gottursprünglichkeit des Wissens wäre, sowie einen Mangel darstellen würde, der mit der Integrität des Menschen nicht kompatibel ist, welche selbst reine Gnade ist: Gott war durch nichts dazu verpflichtet.
Diese Gnaden, speziell auch die heiligmachende Gnade, war Adam nicht nur auch persönlich, sondern sie war ihm ebenso für den Menschen als solchen gegeben: die Gnaden, mit welchen er ausgestattet war (die Integrität miteingeschlossen), waren ihm für seine gesamte Nachkommenschaft gegeben. Sie sollten von ihm aus auf alle nachkommenden Menschen übergehen. Doch welcher Art sollte diese Übertragung sein?
Die Gnade, so sagten wir, ist (wie die Sünde) nicht zum Wesen des Menschen gehörig, wie beispielsweise die Seele. Sie kann als aphysische, übernatürliche und allein von Gottes gnädigem Willen abhängige Realität (ebenso wie die Sünde) freilich auch nicht im Genom des Menschen verankert sein. Dennoch aber war die heiligmachende Gnade so angelegt, dass sie nicht durch Nachahmung, sondern durch Fortpflanzung von Generation zu Generation weitergegeben werden sollte. Zusammenfassend: der Urzustand des Menschen sollte mit allen seinen Konsequenzen, wie etwa dessen Integrität etc. durch Fortpflanzung den Nachkommen „natürlich“ weitergegeben werden. Damit ist jedoch nicht gemeint durch und mittels der biologischen Fortpflanzung, sondern diese begleitend und hinsichtlich einer übernatürlichen Ordnung, welche von der natürlichen Ordnung (der biologischen Zeugung) verschieden und zu unterscheiden, jedoch untrennbar mit dieser verbunden ist. Sie wird durch Fortpflanzung weitergegeben, aber nicht in deren biologischen Komponente, sondern diese begleitend, da unter Fortpflanzung mehr zu verstehen ist als Zellteilung und Genaustausch. Wie der menschliche Zeuger eine biologische Ähnlichkeit mit dem Gezeugten hat, der Zeuger aber nicht nur leiblich ist, sondern auch einen geistigen Anteil in sich trägt, so sollte sich dem Willen des Schöpfers folgend auch der Zeugungsakt bzw. die Fortpflanzung nicht allein auf einen genetischen Prozess beschränken, weil auch der Zeuger mehr ist als seine Biologie. Es sollte der Mensch als Gesamtes betroffen sein und damit auch dessen geistiges Sein, welches außerhalb des genetisch und biologisch Fassbaren gelegen ist. Bei der Fortpflanzung wird nämlich nicht nur Genmaterial weitergegeben, sondern etwas, das darüber hinaus geht, und in diesen darüber hinausgehenden Bereich, der ebenso zur Fortpflanzung gehörig ist wie die biologische Komponente, fällt die Weitergabe der Erbschuld (bzw. des Urzustandes, wie es vorgesehen war). Diesen über die reine Genetik hinausgehenden Bereich der Fortpflanzung nennen wir die Natur des Menschen: die Natur des Menschen ist das, was ihn als solchen charakterisiert und zu ihm gehört, auch wenn es nicht unbedingt zu seinem Wesen gehört.
Damit dies etwas deutlicher wird, können wir uns zumindest in einer der entscheidenden Hinsichten gedanklich an einem ähnlichen und analogen Beispiel anhalten: der Seele. Auch wenn es entscheidende Unterschiede gibt (etwa dass die Seele, im Gegensatz zu Urschuld und Gnade, sehr wohl zum Wesen des Menschen gehörig ist, aber das ist nicht der Zielpunkt des Vergleichs, sondern die unterschiedlichen Fortpflanzungsbereiche und deren Verbundenheit), so ist auch deren Eingießung streng an die Fortpflanzung gebunden, so verschieden sie auch von dieser ist. Bei (und nicht durch!) der Zeugung wird von Gott selbst dem neu entstandenen Menschen eine individuelle und ewige Seele eingegossen. Dass eine Zeugung geschieht, ist unabdingbare Voraussetzung dafür, dass es (im selben Augenblick) zu einer Eingießung der Seele kommen kann. Auch die Seele entsteht nicht durch die Fortpflanzung als solche, sondern als ein eigener, von dieser getrennter Akt, allerdings bei selbigem und diesen begleitend. Der Mensch pflanzt sich leiblich fort, und Gott gibt die Seele: Natur und Übernatur sind aneinander gebunden, und bleiben dennoch unterschieden.
Es gibt zum Urzustand bzw. der Erbsünde zwar zahlreiche Unterschiede, aber dennoch können wir uns die Weitergabe des Urzustandes (und dann weiter auch die Erbschuld) ein wenig ähnlich vorstellen, welche durch Vererbung weitergegeben werden sollte, wenngleich nicht hinsichtlich der biologischen Vererbung, sondern gleichsam „anlässlich“ und unbedingt einhergehend mit dieser bei der Vererbung der Natur des Menschen.
Da der Urzustand des Menschen ein Gnadenstand ist, speziell das Sein in der heiligmachenden Gnade, muss dieser (ähnlich wie die Seele) von Gott kommend sein, da er der eigentliche und einzige Spender aller Gnaden ist. Deswegen kann nicht von einer Notwendigkeit gesprochen werden, sondern es bedarf des positiven Wollen Gottes, dass a) der Urzustand des Menschen weitergegeben wird und b) dass dies an die Fortpflanzung gebunden ist.
Durch diese göttliche Ordnung ist zweierlei gewährleistet: einerseits ist die heiligmachende Gnade eine feste Zusicherung an jeden, andererseits bleibt sie dabei höchst persönlich und individuell. Gott hat also die (biologische) Fortpflanzung nicht als Mittel, aber doch als definitiven, garantierten „Anlass“ genommen. Alle Menschen sollten im selben Zustand der Gnade stehen.
Weil die heiligmachende Gnade eine eben solche ist (Gnade), ist sie von Gott ungeschuldet. Die Integrität resultiert aus dieser Gnade. Folglich hätte Gott den Menschen auch in einem reinen Naturzustand erschaffen können: er wäre dann seinem Wesen gemäß gewesen, ohne aber mit zusätzlichen Gnaden ausgestattet zu sein. Er wäre somit gewesen wie wir, jedoch ohne dass dieser Zustand aus einer Schuld resultierend wäre. Der Unterschied zwischen diesem möglichen, hypothetischen Status und unserer Realität ist jener, dass wir auf Grund der Schuld Adams nicht in einem status naturae purae, also einer reinen Natur stehen, sondern der unsrige ist ein status naturae reparatae, eines „reparierten“, wiederhergestellten status naturae lapsae, d.h. der gefallenen Natur, wie sie seit dem Sündenfall vor der Erlösung durch Christus bestand.
Von dieser positiven Bestimmung aus, was Gott ursprünglich für den Menschen vorherbestimmt hatte und wie dieser Urszustand hätte weitergegeben werden sollen, haben wir im Grunde auch bereits zumindest eine erste Antwort auf die Frage erhalten, weshalb die persönliche Schuld Adams als Erbschuld auf das ganze Menschengeschlecht übergehen konnte bzw. musste. Wie der Urzustand Adams auf all dessen Nachkommen hätte übergehen sollen, ist an dessen Stelle jener verletzte und sündige Zustand auf die nachfolgenden Menschen übergegangen, weil Adam gemäß Gottes Ordnung konstitutiv für das gesamte Menschengeschlecht war.
Was die Erbschuld in ihrem tiefsten Wesen ist, kann nicht letztlich beantwortet werden. Es ist ein mysterium stricte dictum, ein Geheimnis um dessen Existenz und Bedeutung wir wissen und von dem wir bestimmte Aussagen mit Sicherheit treffen können welche ausreichend sind, um sie in das Gesamt der Theologie einzufügen und deren Gewicht ein bestimmtes Maß zuzuordnen. Im Fall der Erbschuld erkennen wir mit Sicherheit, dass es einer der zentralen Angelpunkte der gesamten Theologie ist. Ließe man die Lehre der Erbschuld fallen, so fiele beinahe die gesamte Theologie in sich zusammen. Wir können immer weiter in das Mysterium des Bösen und der Sünde dringen, wir müssen das auch tun, doch stoßen wir an einem gewissen Punkt an die Grenze dessen, was zu erkennen uns der Schöpfer zugedacht hat – diese Grenze ist durch unser Menschsein, besser: durch unser Nicht-Gott-Sein gegeben, und dann nochmals enger gezogen durch den Verlust des Zustandes der Integrität.
Doch versuchen wir uns dieser Grenze noch ein Stück weit anzunähern, weil sich von der Erbschuld her das Warum der Geburt Christi und folglich des Kreuzes erschließt.
Gehen wir dazu noch einmal von der bereits getroffenen Differenzierung aus, dass die Erbschuld unterschieden werden muss zwischen der Sünde, welche aktiv durch die Stammeltern begangen worden ist und deren Sünde die Erbschuld gleichsam hervorgebracht hat (peccatum originale originans ), und der passiv, ohne persönlicher Schuld empfangenen Erbschuld (peccatum originale originatum).
Was das peccatum originale originans betrifft, so ist sie eine wahre und echte Todsünde gewesen. Wir haben bereits von der Integrität der Stammeltern gesprochen, welche zur Folge hatte, dass die Erkenntnis vollkommen und der Geist ungetrübt war. Es war den Stammeltern keine Schwierigkeit, den Willen Gottes zu erkennen, dessen Sinn zu verstehen und ihn so zu erfüllen. Der Teufel konnte zwar sehr wohl seine Versuchungen und Verlockungen anwenden, aber die Stammeltern waren in derart reichem Maße mit Gnade ausgestattet und dementsprechend integer in deren Natur, dass sie diesen Versuchungs-Versuchen des Teufels ohne Mühe zu widerstehen imstande gewesen wären. Es gibt für die Stammeltern also keine – um es etwas iuridisch zu wenden – „mildernden Umstände“, so dass eine jedwede Sünde, die sie begangen hätten, absolut unnotwendig war und daher letztlich keine andere sein konnte als eine Todsünde. Ja mehr noch: in der Ursünde ist aus eben diesen Gründen die schwerste aller Sünden zu sehen! Sie gingen daher der heiligmachenden Gnade verlustig (fielen somit also aus der Teilhabe am göttlichen Leben), folglich verloren sie auch den Zustand der Integrität, zogen sich den Zorn Gottes zu und verloren ihre Freiheit. Es handelt sich also um eine persönliche Sünde, eine Sünde im echten und eigentlichen Sinne. Als eine eben solche kann jedoch nicht die Sünde selbst durch Fortpflanzung übertragen werden – eine persönliche Sünde ist eben persönlich und aktiv begangen -, sondern nur deren Schuld vermag durch Fortpflanzung von Generation zu Generation weitergegeben zu werden.
Wenn wir von „Erbsünde“ sprechen, so meinen wir also eigentlich die, mit der persönlichen Ursünde Adams, verbundene Schuld. Diese ist es, welche, in der oben beschriebenen Weise „vererbt“ wird. Von daher sehen wir, dass es sich beim Begriff der „Erbsünde“ weder beim „Vererben“ noch bei der „Sünde“ präzise um die damit verbundene Bedeutung im Sinne unserer alltäglichen Sprache handelt, sondern dass der theologische Hintergrund mitgedacht werden muss, um nicht in irrtümliche Meinungen zu verfallen, welche nicht selten zur Ablehnung des gesamten theologischen Konzeptes der Erbsünde führen.
Ein Gedankem an welchen wir uns aber wohl doch gewöhnen müssen, auch wenn er in einem Zeitalter des Individualismus und Personalismus mehr als unmodern ist, ist die Tatsache, dass Gott den Menschen sowohl als einzelnes Individuum sieht, als auch als kollektives Gesamt von Menschen. Um diesen Gedanken – mit all seinen Konsequenzen, wie der Kollektivstrafe, die auch Unschuldige treffen kann – kommen wir in einem theologischen Realismus wohl nicht herum, besonders wenn es um die Stellvertretung geht. An dieser Stelle sei nur kurz angedeutet, dass es ein seltsames Ungleichgewicht gibt wenn wir zwar einerseits immer sehr gerne betonen dass Christus stellvertretend für alle die Sünden der Welt auf sich genommen hat, jedoch den, in den Grundzügen sehr ähnlichen, Gedanken ablehnen, dass nicht nur die Schuld aller stellvertretend auf einen übergehen kann, der sie sühnt, sondern auch die Schuld eines Einzelnen sich kollektiv auf alle ausweiten kann, auch wenn die der Schuld vorausgehende persönliche Sünde stets eine persönliche bleibt.
Von daher wird die Schuld Adams übertragen, nicht dessen persönliche Sünde, welche dessen persönliche Sünde bleibt. Die Erbschuld ist also in keinem Sinne eine persönliche Sünde, weder unsere eigene, noch eine als persönliche Sünde übertragene Sünde. Es handelt sich somit bei der Erbsünde (die noch treffender als Erbschuld bezeichnet wird) nicht um eine aktuelle (peccatum actuale), sondern um eine habituelle (peccatum habituale), d.h. um einen sündhaften Zustand, dem die aktuelle Sünde Adams zugrunde liegt. Diese geht nicht als Sünde, sondern als Schuld auf uns über.
Somit können wir zusammenfassend festhalten: Die Erbsünde ist nach ihrer Art eine, nach ihrer Zahl jedoch so vielfach wie die Zahl aller Menschenseelen minus eins (Maria). An dieser Stelle kommt jene Verbindung ins Spiel, welche wir bereits vor einer Woche bedacht haben: das Kreuz, auf welches die Krippe ausgerichtet ist.
Die Sünde Adams gab den Auslöser für sämtliche anderen Sünden der Menschheitsgeschichte, und auf Grund der Umstände, in welchen sie geschah – im integren Urzustand – ist sie als die schwerste aller Sünden zu werten. Das ist deshalb zu erwähnen, um zu begreifen, welche Schuldenlast auf der Menschheit und auf jeden einzelnen Menschen lastet. Von einer solch schweren, beinahe unendlichen Schuldenlast konnte sich der Mensch nicht aus eigener Kraft befreien, weder als Individuum noch als Kollektiv der Menschheit. Der Mensch ist erlösungsbedürftig geworden, weil er ansonsten der ewigen Verdammnis anheimgefallen wäre, da die Konsequenzen der Todsünde die Trennung von Gott bedeutet – auch wenn er keine persönliche Sünde begangen hat, sondern die Schuld des anderen trägt.
Wie die Schuld aber durch einen Menschen quasi „stellvertretend“ in die Welt kam und kollektiv auf alle verteilt wurde, so kann umgekehrt auch die Sühne prinzipiell stellvertretend von einem für das Kollektiv dargebracht werden. Allerdings, so sagten wir, ist kein Mensch dazu in der Lage, einer unendlichen Schuld mit einer unendlichen Sühne Genugtuung zu leisten. Einerseits muss für die Sünde eines Menschen auch von einem Menschen Sühne geleistet werden, andererseits ist es keinem Menschen möglich eine unendliche Schuld mit einer unendlichen Sühne zu leisten – nur Gott selbst.
Aus diesem Grunde hat Gott sei Ewigkeit her beschlossen, selbst Mensch zu werden und diese Sühne zu leisten: ungeschuldet, aus reinem, gnädigen Erbarmen. Gott wurde also nicht von der Sünde Adams „überrascht“ und hat dann einen Ausweg gesucht und einen Beschluss gefaßt, sondern in Seiner Allwissenheit wusste er von Anfang an darum und hat von Ewigkeit her die Erlösung des gefallenen Menschen festgesetzt. Somit gingen die Seelen der Gerechten, welche vor dem Kreuzesopfer Christi lebten und starben auch nicht völlig verloren, sondern harrten im Limbus der Väter des Kommens des Heilandes. In der Realität des limbus patrum erkennen wir, dass Gott die stellvertretende Sühne seit jeher geplant hatte, weil er ein vorläufiger „Wartezustand“ derer war, welche der Früchte des Kreuzesopfer teilhaftig werden. Die Erlösung war der Zweck seiner Inkarnation, die Inkarnation wiederum das geeignete, ja geradezu notwendige Mittel zum Zweck, auch wenn sich daneben noch einige weitere positive „Nebeneffekte“ für den Menschen ergeben haben, die selbst nicht der eigentliche Grund der Menschwerdung waren.
Wir sagten, dass die Erbschuld, von welcher uns Jesus Christus erlöst hat, ihrer Art und ihrem Ursprung nach eine, der Zahl hingegen vielfach ist: Der Erbsünde folgten Erbschulden! Die Schuld geht auf alle einzelnen Individuen über, und bleibt nicht eine einzige große Schuld die auf dem Kollektiv aller lastet.
Deshalb hat Christus auch die Menschen – jeden einzelnen – von der je individuellen habituellen Schuld befreit (Erbsünde), sowie von den persönlichen, aktuellen Sünden. Die Sündenfolgen hingegen werden erst am Ende endgültig beseitigt beseitigt.
Diese Glaubenswahrheit wird allerdings durch manche falschen und tendenziös interpretierenden liturgischen Übersetzungen (besonders im Agnus Dei und folglich auch im Gloria) verdunkelt und verändern so negativ die allgemeine Wahrnehmung bei den Menschen. Im Lateinischen Originaltext ist zu lesen: „Agnus Dei, qui tollis peccata mundi“. „peccata“ ist der Plural von „peccatum“ und müßte deshalb heißen: „Lamm Gottes, du nimmst hinweg die Sünden der Welt“. Anstatt dessen wird meist fälschlich im Singular gebetet: „du nimmst hinweg die Sünde der Welt“.
Dies ist kein marginales und vernachlässigbares Detail, sondern eine unter dogmatischen Aspekten unterschiedliche Aussage. Christus hat nicht einfach die Sünde der Welt als solche hinweggenommen, sondern seine Erlösung bezieht sich zunächst auf jeden einzelnen Sünder persönlich. Eine Übersetzung im Singular hat vor allem zwei Konsequenzen: sie legt zum einen den Gedanken nahe, dass es in der Welt keine Sünde mehr gäbe, und zum anderen verdunkelt sie den persönlichen Charakter der Sünden. Es ist nicht „die Welt“, die sündigt und an deren Sünden wir insofern teilnehmen, als wir dieser sündigenden Welt zugehörig sind, sondern wir alle sind sündig, ganz persönlich und ohne dass wir uns schulterzuckend hinter einer anonymen, bösen Weltenstruktur verstecken könnten. Deshalb ist auch das Gericht in gewisser Weise ein doppeltes: es gibt das universale Weltengericht, doch auch das persönliche Gericht, das sich im Augenblick unseres Todes vollzieht.
„Die Sünde der Welt“ ist theologisch zwar nicht vollkommen falsch, insofern die Erbschuld, welche eine „Sünde der Welt“, d.h. eine die gesamte Menschheit betreffende Sünde gesühnt wurde, aber wie wir gesehen haben, bleibt die Erbschuld eben nicht im Allgemeinen des Ganzen stehen, sondern wird zu unserer je eigenen, persönlichen Schuld. Die Existenz der Erbschuld ist nicht als solche beseitigt, nach wie vor sind die Menschen von ihr betroffen, weshalb es der persönlichen Taufe bedarf, um die von Christus gewirkte Tilgung an der einzelnen Seele wirksam zu machen. Weil nicht die Erbschuld als solche ausgelöscht wurde, reinigt uns die heilige Taufe von der uns persönlich befallenden habituellen Schuld Adams. Weil aber die aktuelle Sünde Adams als habituelle Schuld jeden ganz persönlich betrifft, und jeder einzeln, persönlich und individuell von der Erbschuld befreit ist, der die Kreuzesfrüchte an sich wirksam werden lässt, ist die Übersetzung im Singular „Du nimmst hinweg die Sünde der Welt“ absolut unzulänglich. Es wirkt, als gäbe es seit dem Opfer Jesu Christi keine (persönliche) Sünde mehr in der Welt, was offensichtlich falsch und irrig ist. Die Erbsünde ist eine persönliche Sünde Adams, die zu einer allgemeinen Wirklichkeit wurde, indem sie nicht als persönliche Sünde, aber sehr wohl als habituelle Schuld persönlich auf jeden einzelnen Menschen übergeht. Der (so zu verstehende!) „persönliche“ Charakter auch der Erbschuld kommt bei einer solchen Übersetzung nicht genug zum Vorschein und geht damit Hand in Hand mit der modernen Tendenz, die Sünde als schuldloses Gefangensein in einer Struktur eines ebenso apersonalen Bösen zu verharmlosen. Dieser die theologischen Tatsachen verkürzenden Tendenz entspricht auch ein wenig die Änderung des Priestergebetes vor der Kommunion. Ließ die Kirche vor der Liturgiereform den Priester sinnvoller Weise beten: „Herr, schau nicht auf meine Sünden, sondern auf den Glauben Deiner Kirche“, so heisst es heute: „schau nicht auf unsere Sünden“, was ebenso den persönlichen Charakter der Sünde verschleiert und die persönliche Sündhaftigkeit des Priesters, die er vorher bekannte, nun in einem allgemeinen Wir aufhebt, in welchem sie nicht mehr auszumachen ist und sie somit anonymisiert und auf das Gesamte abschiebt.
Wenn wir uns in diesen Tagen des Advents also auf die heilige Weihnacht vorbereiten, so tun wir dies deshalb, weil Gott Mensch wurde, um mich ganz persönlich von der mich behaftenden Erbschuld zu befreien, die Erbschuld als Ganzes zu sühnen und meine persönliche Sündenlast auf sich zu nehmen, aufs Kreuz zu tragen und zu sühnen, um mir so die Pforten zum Paradies aufzusperren, damit ich die Möglichkeit habe durch diese einzutreten in die Teilhabe am göttlichen Leben.