Oh Emmanuel
10. Teil der Adventbetrachtungen aus dem Buch "Auf dem Weg nach Bethlehem" (mit freundlicher Genehmigung des Autors, P. Michael Gurtner)
O Emmanuel,
Unser König und Gesetzgeber,
Du Erwartung der Völker und ihr Heiland:
Komm uns zu erlösen,
Herr, unser Gott!
Heute betet die Kirche die letzte ihrer sieben O-Antiphonen, mit welchen sie sich in der letzten Woche vor der heiligen Weihnacht in besonderer Weise auf die Ankunft des göttlichen Heilandes vorbereitet hat. Sie ist der Höhepunkt, die Zusammenfassung dessen, die heute das klar benennt, was an jedem einzelnen der vergangenen sechs Tagen kryptisch umschrieben wurde. Alles in ihr ist heute Wiederholung von Dingen, welche in der vergangenen Woche bereits in den Antiphonen vorhanden waren, mit einer großen Ausnahme, die ganz am Anfang steht und sich mit dem Ende verbindet: Oh Emmanuel, unser Herr und unser Gott. Und diese große Ausnahme wird gerade dadurch besonders betont, daß der Rest Wiederholung ist.
Heute, gleichsam am Ende, wird der, der erwartet wird, erstmals nicht mit einem Aspekt Seines Seins bezeichnet, sondern bei Seinem verheißenen Namen benannt: Oh Emmanuel! Ein wenig hatten wir bereits Gelegenheit im Zusammenhang mit der Verkündigung diesen Namen zu betrachten.
Die heutige Antiphon ist, so können wir sagen, die Antiphon des Inkontakttretens Gottes mit dem Menschen. Heute ist angezeichnet, dass das Rufen der letzten Tage nicht nur gehört, sondern auch erhört ist. Die Antwort Gottes auf den Ruf des Menschen ist in Seinem Sohn gegeben, dem Emmanuel, dem „Gott-ist-mit-uns“. In dieser Benennung des Heilandes am heutigen letzten Tag der großen Antiphonen zeigt die Kirche an, daß ihr inständiges, geduldiges Rufen „Komm, um …“ durch das Kommen dessen, der das Mitsein Gottes ist, erhört wird. Im Kind ist Gott der mitseiende Gott.
Es gehen hier letztlich zwei große Offenbarungen zusammen. Hat sich Gott im brennenden Dornbusch einst als „Der, Der ist“ geoffenbart, so beugt sich dieses Sein Gottes nun zum gefallenen Menschen herab. Gott ist nicht nur Der, Der ist, er ist auch der der mit-ist. Dieses Mitsein, wir sagten es am 6. Dezember bereits, ist ein zielgerichtetes Mitsein Gottes, es ist nämlich auf die Errettung des Menschen gerichtet. Diese ist es nämlich, deren der Mensch bedarf, und diese ist es daher, welche er bekommt. Das bloße Mitsein Gottes, also ein Mitsein Gottes ohne die Heilsbringung, wäre letztlich leer und wenig nützlich gewesen. Deshalb wird der verheißene Messias aus Jes 7,14 vom Emmanuel (Gott-ist-mit-uns) zum Jesus (Gott rettet). Dadurch ist ausgesagt, dass Gott nicht hinter dessen Verheißungen zurückbleibt, sondern im Gegenteil, er übertrifft diese gar noch.
Die große Adventsverheißung aus Jes 7,14 ist wohl einer der am meisten zitierten Texte in diesen Tagen der großen Erwartung: „Der Herr sprach noch einmal zu Ahas; er sagte: Erbitte dir vom Herrn, deinem Gott, ein Zeichen, sei es von unten, aus der Unterwelt, oder von oben, aus der Höhe. Ahas antwortete: Ich will um nichts bitten und den Herrn nicht auf die Probe stellen. Da sagte Jesaja: Hört her, ihr vom Haus David! Genügt es euch nicht, Menschen zu belästigen? Müsst ihr auch noch meinen Gott belästigen? Darum wird euch der Herr von sich aus ein Zeichen geben: Seht, die Jungfrau wird ein Kind empfangen, sie wird einen Sohn gebären und sie wird ihm den Namen Immanuel (Gott mit uns) geben. Er wird Butter und Honig essen bis zu der Zeit, in der Er versteht, das Böse zu verwerfen und das Gute zu wählen“. (Jes 7,10ff.).
Im Hl. Evangelium nach Matthäus (1,20-23) wird Jesus mit dem Emmanuel identifiziert:„Während er noch darüber nachdachte, erschien ihm ein Engel des Herrn im Traum und sagte: Josef, Sohn Davids, fürchte dich nicht, Maria als deine Frau zu dir zu nehmen; denn das Kind, das sie erwartet, ist vom Heiligen Geist. Sie wird einen Sohn gebären; Ihm sollst du den Namen Jesus geben; denn Er wird Sein Volk von seinen Sünden erlösen. Dies alles ist geschehen, damit sich erfüllte, was der Herr durch den Propheten gesagt hat: Seht, die Jungfrau wird ein Kind empfangen, einen Sohn wird sie gebären, und man wird ihm den Namen Immanuel geben, das heißt übersetzt: Gott ist mit uns.“
Er, der nun über Israel hinausgehend zu allen Völkern kommt, kann durch deren Widerstand letztlich nicht aufgehalten werden, denn der, „der mit-ist“ ist derselbe wie Der, „Der ist“. Selbst das Toben dieser Völker, zu denen er nun kommt und die Sein Kommen letztlich gar nicht wollen, weil es sie in deren gottlosen Selbstgefälligkeit beeinträchtigt, vermag Ihn nicht daran zu hindern, den Willen des Vaters zur Erfüllung zu bringen.
„Weiter sagte der Herr zu mir: Weil dieses Volk die ruhig dahinfließenden Wasser von Schiloach verachtet und vor Rezin und dem Sohn Remaljas verzagt, darum wird der Herr die gewaltigen und großen Wasser des Eufrat [den König von Assur und seine ganze Macht] über sie dahinfluten lassen. Und der Fluss wird alle seine Kanäle überfluten und über alle Ufer treten. Auch auf Juda wird er übergreifen, er wird es überfluten und überschwemmen, bis er den Leuten an den Hals reicht. Die Ausläufer seiner Fluten bedecken weit und breit dein Land, Immanuel. Tobt, ihr Völker! Ihr werdet doch zerschmettert. Horcht auf, ihr Enden der Erde! Rüstet nur! Ihr werdet doch zerschmettert. Rüstet! Ihr werdet zerschmettert. Macht nur Pläne! Sie werden vereitelt. Was ihr auch sagt, es kommt nicht zustande. Denn «Gott ist mit uns». Denn so sprach der Herr, als Seine Hand mich packte und Er mich davon abhielt, auf dem Weg dieses Volkes zu gehen: Nennt nicht alles Verschwörung, was dieses Volk Verschwörung nennt. Was es fürchtet, sollt ihr nicht fürchten; wovor es erschrickt, davor sollt ihr nicht erschrecken. Den Herrn der Heere sollt ihr heilig halten; vor Ihm sollt ihr euch fürchten, vor Ihm sollt ihr erschrecken.“ (Jes 8,5ff.).
Letztlich sind „Emmanuel“ und „Jesus“ auch eucharistisch verbunden. In diesem Sakrament sind, wie nirgends anders, beide Aspekte auf das Innigste miteinander vereint. Es ist das eigentliche Sakrament der Rettung und Erlösung. Er, der im „Haus des Brotes/Fleisches“ (Bethlehem) als „der der rettet“ (Jesus) geboren wurde, ist als der verheißen, „der mit-ist“ (Emmanuel). In der Eucharistie, der Vergegenwärtigung des Kreuzesopfers, ist die Rettung gelegen, weil diese selbst der „Emmanuel“ ist, Jesus Christus, der in der Gestalt von Brot und Wein als wahrer Gott dauerhaft „mit-ist“, d.h. dauerhafte, physische Gegenwart in der Welt hat. Im Allerheiligsten Sakrament des Altares laufen also die Fäden des Heils gleichsam zusammen.
Mit dem Hinweis auf Christus als den „König und Gesetzgeber“, wie es in der zweiten Zeile heisst, wird auch heute die Verbindungskette der einzelnen Antiphonen untereinander weitergeknüpft. Hier ist nochmals Jesaja aufgenommen und entstammt jener Stelle aus dem dreiunddreißigsten Kapitel, an welcher der Prophet von den besseren Zeiten spricht, welche auf das große Gericht folgen werden: „Ja, der Herr ist unser Richter, der Herr gibt uns Gesetze; der Herr ist unser König, Er wird uns retten.“ (Jes 33,22). Auch das Bild der Sehnsucht wird heute nochmals aufgenommen („du Erwartung der Völker und ihr Heiland“). Diese Sehnsucht nach dem Heiland begleitete das Volk Israel seit den Tagen der Genesis:
„Nie weicht von Juda das Zepter, der Herrscherstab von Seinen Füßen, bis Der kommt, Dem er gehört, Dem der Gehorsam der Völker gebührt. Er bindet am Weinstock Sein Reittier fest, Seinen Esel am Rebstock. Er wäscht in Wein sein Kleid, in Traubenblut sein Gewand.“ (Gen 49,10f.). Wenn der Heiland kommt, dann wird jenes Erfüllung finden, was auch die Gottesmutter Maria in ihrem Magnificat angedeutet hat, als sie das Alte Testament zitierend, davon sprach, dass die Niedrigen erhöht und die Mächtigen von ihrem Throne gestoßen werden:
„Darum - so spricht Gott, der Herr: Ihr habt selbst an eure Schuld erinnert - eure Vergehen liegen offen zutage, eure Sünden sind samt all euren Untaten ans Licht gekommen -, und weil ihr überführt seid, wird man euch mit Gewalt packen. Du entweihter, verbrecherischer Fürst von Israel, für den der Tag gekommen ist, die Zeit der endgültigen Abrechnung! So spricht Gott, der Herr: Weg mit dem Turban, herunter mit der Krone! Nichts soll bleiben, wie es ist. Das Niedrige wird hoch, das Hohe wird niedrig. Zu Trümmern, Trümmern, Trümmern mache ich die Stadt. Auch dies geschieht nicht, bis der kommt, Der auf sie ein Anrecht hat und Dem ich sie geben will“ (Ez 21,32).
Im Magnificat haben wir bereits gesehen, wie auch Maria selbst diese Stelle aufgegriffen und auf die Ereignisse um die Geburt ihres Sohnes bezogen hat. Es kommt also der Heiland, der Emmanuel, um als König und Gesetzgeber über Seine Völker zu richten und das Recht wiederherzustellen und das Gesetz zu erfüllen. Der Grund, für welchen die Kirche heute um das Kommen des Herrn betet, ist uns auch bereits begegnet: die Erlösung.
Im Anschluss daran erfolgt nochmals eine Anrufung: „unser Herr unser Gott“. Dies bildet gleichsam eine Klammer mit der Anrufung die wir eingangs gesehen haben: „Emmanuel“. Der Emmanuel wird als der Herr und Gott bekannt. Das will nochmals heißen: Gott schickt nicht bloß einen Abgesandten, er ist kein grausamer Gott der Seinen Sohn opfert, wie oftmals der Einwand erhoben wird, sondern Er selbst ist es, Der mit-ist und Der rettet, er opfert sich selbst für die Sünden die er selbst nicht begangen. Dieses Kind in der Krippe ist also nicht eine von Gott unterschiedene Figur, sondern Er ist es selbst. In jedem der vergangenen sechs Tagen ist dieses Gottsein des Erwarteten angeklungen, doch heute, wo Er erstmals mit einem Namen (Emmanuel) angerufen wird, wird er auch offen und direkt als der bezeichnet der er ist, nämlich als „Herr, unser Gott“.
Die weihnachtliche Situation in welcher dieser Reigen der O-Antiphonen mit diesem vertrauensvollen Bekenntnis endet, lässt uns unweigerlich an Psalm 106 denken. Der Psalmist zählt darin all die Frevel und Untaten auf, welche Gottes Zorn erwecken mussten. Doch trotzdem kommt das unverdiente Erbarmen Gottes über die Frevler und Seine Gnade erfasst sie, was sie animieren soll, das Halleluja anzustimmen: „Sie vermischten sich mit den Heiden und lernten von ihren Taten. Sie dienten ihren Götzen; die wurden ihnen zur Falle. Sie brachten ihre Söhne und Töchter dar als Opfer für die Dämonen. Sie vergossen schuldloses Blut, das Blut ihrer Söhne und Töchter, die sie den Götzen Kanaans opferten; so wurde das Land durch Blutschuld entweiht. Sie wurden durch ihre Taten unrein und brachen Gott mit ihrem Tun die Treue. Der Zorn des Herrn entbrannte gegen Sein Volk, Er empfand Abscheu gegen Sein Erbe. Er gab sie in die Hand der Völker und die sie hassten, beherrschten sie. Ihre Feinde bedrängten sie, unter ihre Hand mussten sie sich beugen. Oft hat er sie befreit; sie aber trotzten Seinem Beschluss und versanken in ihrer Schuld. Doch als Er ihr Flehen hörte, sah Er auf ihre Not und dachte ihnen zuliebe an Seinen Bund; er hatte Mitleid in Seiner großen Gnade. Bei denen, die sie verschleppten, ließ er sie Erbarmen erfahren. Hilf uns, Herr, unser Gott, führe uns aus den Völkern zusammen! Wir wollen Deinen heiligen Namen preisen, uns rühmen, weil wir Dich loben dürfen. Gepriesen sei der Herr, der Gott Israels, vom Anfang bis ans Ende der Zeiten. Alles Volk soll sprechen: Amen. Halleluja!“ (Ps 106, 35ff.).
Am Ende müssen wir nochmals auf den Anfang zurückkommen, genauer gesagt, müssen wir nochmals zu der Aussage zurückkehren, dass in der heutigen Antiphon das Antworten Gottes auf das Rufen des Menschen verborgen ist, und zwar in einer doppelten Hinsicht. Einerseits finden wir heute die Antwort Gottes auf das Rufen der Kirche der gesamten letzten sieben Tage, andererseits darin nochmals speziell auf den heutigen Anruf des Emmanuel: Der, Der mit-ist. Die Antwort ist in einem Akrostichon verborgen: wenn wir, von heute ausgehend, die Anrufungen der letzten sieben Tage in ihren Anfangsbuchstaben zurücklesen, so ergibt sich die Aussage „ero cras“ – morgen werde ich sein/morgen werde ich dasein.
O Sapientia!
O Adonai!
O Radix Iesse!
O Clavis David!
O Oriens!
O Rex!
O Emmanuel!
Es ist die Zusage des Kommens Gottes. Freilich ist dies alles in einer poetisch-kompositorischen Weise auszusagen. Bei den O-Antiphonen handelt es sich nicht um Gotteswort, sondern um liturgische Kompositionen, die sich aus biblischen Aussagen zusammensetzen. Gerade die Anrufungen sind in ihrer Zusammenstellung jedoch dem menschlichen Geist entsprungen, allerdings so, dass darin doch eine tiefe, durchdachte Theologie zum Ausdruck kommt. Von daher ist in dieser Antwort ero cras nicht die direkte, unmittelbare Antwort Gottes zu sehen, sondern die Gewissheit und Zuversicht des Menschen, dass das in der Geschichte des Antiken Testamentes zugesagte Kommen Gottes dabei ist, sich zu verwirklichen und unmittelbar bevorsteht. Diese Gewissheit kommt aus dem Bewusstsein heraus, dass dieses Kommen Gottes tatsächlich auch so geschehen ist vor 2000 Jahren, sich das angekündigte Kommen Gottes also bereits verwirklicht hat. Die Liturgie der Kirche ist aber stets bemüht, die jeweilige liturgische Zeit und ihre spezielle Prägung durch die Festmysterien wie ein Heute nachzuleben. „… Hoc est hodie“. Dadurch wird deutlich, dass das Heilshandeln Gottes nicht vergangen und abgeschlossen ist, sondern bis ins Heute aktuell bleibt und fortwirkt, regelrecht so als würde es gerade heute geschehen.
Wenn die Kirche also in der Rückschau, die Anfangsbuchstaben zusammennimmt und die Zusicherung Gottes liest: ero cras, morgen werde Ich (da) sein, dann drückt sie damit aus, dass Gott das beständige Rufen Seiner Kirche erhört, dass Er in Seinen Taten eine Antwort gibt auf das Rufen, Hoffen und Beten der Menschen und Seiner Kirche. Dieses „ero cras“, welches der Komponist der Antiphonen in diese so kunstvoll einbaut, ist nichts anderes als eine poetisch überaus gelungene Synthese der Grundaussage der alttestamentarischen Erlösungsverheißungen, denen wir in einem guten Teil in unseren adventlichen Betrachtungen begegnet sind. Somit ist der Rhythmus der Erlösungsgeschichte in der kirchlichen Adventliturgie nachgezeichnet und in speziell in den O-Antiphonen nochmals zusammengerafft und konzentriert: auf die flehentliche Anrufung des Volkes antwortet Gott mit Seiner Zusicherung des Kommens, und setzt diese schließlich in Realität um. Der, Der (morgen) kommt ist Der, Der ist, Der, Der mit-ist, Der rettet und schließlich Sein mit-Sein nach der Rettung weiterführt und schließlich zum allzeit in Seiner Welt, konkret in seiner Kirche mit-Bleibenden wird.
In der Eucharistie bündeln sich die beiden Pole in einem einzigen Brennpunkt zusammen. Die Mysterien der Weihnacht (Ankunft, Menschwerdung, Gottesgegenwart unter den Menschen) und die Mysterien der Passion (Erlösung, Sühne, Aufstieg zum Vater und Erwartung der Wiederkunft) sind in ihr vereint, indem derselbe Christus real gegenwärtig ist und bleibt, in seiner gesamten Menschheit und Gottheit, mit Fleisch und Blut, Leib und Seele. Kurz: Christus ist präsent mitsamt der ihn betreffenden Vergangenheit (in der Eucharistie sehen wir den, der gekommen ist und der tatsächlich gehandelt hat) und Der ihn betreffenden Zukunft (in der Hostie sehen wir den, der dereinst wiederkommen und zu Gericht sitzen wird, um alles wiederherzustellen was korrupt ist).
So, wie die menschliche Zuversicht, welche in diesem akrostischen „ero cras“ im Rückblick auf die Gebete der letzten Woche zum Ausdruck kommt, für die erste Ankunft erfüllt ist, so dürfen wir darin auch einen auf die letzte Ankunft gerichteten Zuruf Gottes sehen: Das Kommen Christi steht bevor!