Oh Schlüssel Davids!
Der Prophet Jesaja (Darstellung von Michelangelo in der Sixtinischen Kapelle)
9. Teil der Adventbetrachtungen aus dem Buch "Auf dem Weg nach Bethlehem" (mit freundlicher Genehmigung des Autors, P. Michael Gurtner)
O Schlüssel Davids
und Zepter des Hauses Israel,
der Du öffnest und niemand schließt,
schließest und niemand öffnet:
Komm, führe den Gefesselten aus dem Kerker,
der sitzt in Finsternis
und im Schatten des Todes.
Christus wird heute, am 4. Tag der O-Antiphonen unter dem Namen des „Schlüssel Davids“ angerufen. Schon allein durch den Bezug zu David, der wieder hergestellt wird, ist ein gewisser Zusammenhang mit der gestrigen Antiphon gegeben, und führt so die Kette auch heute wieder nahtlos um ein Glied weiter.
Das Bild des „Schlüssel Davids“ ist wieder dem großen Propheten Jesaja entnommen. Im 22. Kapitel schildert er, wie Schebna abgesetzt wird und Eliakim an dessen Stelle eingesetzt:
„An jenem Tag werde ich meinen Knecht Eljakim, den Sohn Hilkijas, berufen. Ich bekleide ihn mit deinem Gewand und lege ihm deine Schärpe um. Ich übergebe ihm dein Amt und er wird für die Einwohner Jerusalems und für das Haus Juda ein Vater sein. Ich lege ihm den Schlüssel des Hauses David auf die Schulter. Wenn er öffnet, kann niemand schließen; wenn er schließt, kann niemand öffnen.“ (Jes 22,20ff.)
Diese Schlüssel Davids sind der Grund der Vollmachten Eliakims: nicht aus sich selbst heraus ist er fähig, aufzuschließen und zu versperren, sondern die „Schlüssel Davids“ sind es letztlich, welche diese Macht in sich bergen. Eliakim kann nur mittels dieser Schlüssel sperren und öffnen. Die Schlüssel haben die Gewalt, Eliakim ist nur der Träger, dessen Vollmacht absolut von den Schlüsseln abhängig ist.
Christus selbst ist Derjenige, welcher aufschließt und versperrt, welcher Gericht hält und in diesem absolviert und verdammt, d.h. den Zugang zum Vater eröffnet oder verweigert. Dies ist der eine Aspekt, jener des persönlichen und des allgemeinen Gerichtes. Mit diesem Gericht, welches am Ende gehalten wird, hängt auch die Binde- und Lösegewalt der Kirche in all ihren unterschiedlichen Facetten zusammen. Diese Gewalt wird im Namen des höchsten Richters ausgeübt, solange das Ende noch nicht gekommen ist. Solange das Weltenende noch nicht da ist, ist der Kirche diese Schlüsselgewalt gegeben, und solange das persönliche Ende noch nicht gekommen ist, kann die Kirche es an den einzelnen Seelen ausüben. Auch das Beichtsakrament ist ein Gerichtsakt, was leider vielfach übersehen wird.
Doch dass die Kirche, welcher von Christus diese Schlüssel übergeben sind, überhaupt binden und lösen, das heißt versperren und aufschließen kann, indem sie beispielsweise im heiligen Bußsakrament die Sünden vergibt und mit den Ablässen, die sie gewährt die Sündenstrafen nachlässt, setzt voraus, dass Christus selbst vorher durch Sein Kreuzesopfer das aufgeschlossen hat, was die Sündenschuld der Stammeltern vorher versperrt hatte. Wir könnten also etwas vereinfacht sagen: Christus sperrte dasjenige generell der Menschheit auf, was die Kirche dann im Konkreten und Aktuellen den einzelnen Menschen aufsperrt. Er machte das ewige Heil der Menschheit wieder zugänglich, während es durch die Kirche dem einzelnen Menschen zugänglich wird. Von daher ist Christus, der aus dem Hause Davids stammte, der Schlüssel, welcher uns das Paradies wieder aufsperrte und zugänglich machte.
Daran werden wir etwas später nochmals anknüpfen, doch vorerst wollen wir noch einen weiteren Gedanken hinzufügen, nämlich die zweite Anrufung, unter welcher heute Christus angerufen wird, jene als das „Zepter des Hauses Israel“. Es ist aus einer Prophezeiung rund um die Ereignisse des Auftragsfluchs des Balak aus dem Buche Numeri entnommen.
König Balak sieht die Israeliten aus Ägypten heranrücken und beauftragt den Propheten Bileam, das von Gott gesegnete Volk Israel durch einen Fluch welchen er aussprechen soll, an einem weiteren Vormarsch zu hindern. Bileam verweigert sich vorerst, geht dann aber doch dem Auftrag des Königs Balak nach. Letztlich aber segnet Bileam das Volk Israel dreimal anstatt es, wie ihm vom König aufgetragen, dreimal zu verfluchen, denn, so rechtfertigt er sich vor Balak: „Ich muss alles tun, was der Herr mir befiehlt“ (Num 23, 26). … „Auch wenn mir Balak sein Haus voll Silber und Gold gibt, kann ich dem Befehl des Herrn nicht zuwiderhandeln und nach eigenem Gutdünken Gutes oder Böses bewirken. Ich muss sagen, was der Herr sagt“ (Num 24, 13).
Der Geist des Herrn kommt über Bileam und er wird von diesem angehalten, dem Auftraggeber des Fluches gegen das gottgesegnete Volk den Untergang zu prophezeien. Aus dieser Prophezeiung ist auch der zweite Teil der Anrufung der heutigen Antiphon entnommen:
„Spruch dessen, der Gottesworte hört, der die Gedanken des Höchsten kennt, der eine Vision des Allmächtigen sieht, der daliegt mit entschleierten Augen: Ich sehe ihn, aber nicht jetzt, ich erblicke ihn, aber nicht in der Nähe: Ein Stern geht in Jakob auf, ein Zepter erhebt sich in Israel. Er zerschlägt Moab die Schläfen und allen Söhnen Sets den Schädel. Edom wird sein Eigentum, Seïr, sein Feind, wird sein Besitz. Israel aber wird mächtig und stark.“ (Num 24, 16ff.).
Das Zepter, welches sich in Israel erhebt, ist Christus. Er ist der aufgehende Stern, Sein ist die Macht. Schlüssen und Zepter weisen darauf hin, dass es um das Aufsperren und um das Herrschen geht. Mit anderen Worten: der, der kommen soll, er ist derjenige, welcher Macht über diejenigen hat, die zugesperrt haben. Er ist von nun an derjenige, welcher bestimmt, was geöffnet und was geschlossen wird. Dies ist freilich in einem heilstheologischen Zusammenhang zu sehen. Gerade das Faktum, daß die Zepter-Thematik aus einer Prophezeiung entnommen ist, welche in engen Zusammenhang mit dem Auszug Israels aus Ägypten steht, und in welcher deutlich wird, dass kein Fluch den Segen Gottes aufheben und das Heil verhindern kann, macht dies deutlich. Gottes Pläne, welche immer Pläne des Heils sind, können nicht dauerhaft vereitelt werden. Er ist es nämlich, welcher das Zepter fest in der Hand hält und den Weltenlauf regiert. Im Hintergrund hört der Beter der heutigen O-Antiphon nochmals mit, was wir vor zwei Tagen über den „Führer Israels“ und des Konnex zwischen dem Exodus Israels aus der Knechtschaft Ägypten als „kleine Vorwegnahme“ des großen Exodus der Menschheit aus der Knechtschaft des Teufels aussagten.
Und tatsächlich ist dies dann auch noch im letzten Teil direkt ausgesagt, nämlich, wenn angegeben wird, was die betende Kirche von dessen Kommen erhofft: „Komm, führe den Gefesselten aus dem Kerker, der sitzt in Finsternis und im Schatten des Todes“. Dieser Schlußvers ist dem ersten Gottesknechtslied aus Jesaja entlehnt, wo es heißt:
„So spricht Gott, der Herr, der den Himmel erschaffen und ausgespannt hat, der die Erde gemacht hat und alles, was auf ihr wächst, der den Menschen auf der Erde den Atem verleiht und allen, die auf ihr leben, den Geist: Ich, der Herr, habe dich aus Gerechtigkeit gerufen, ich fasse dich an der Hand. Ich habe dich geschaffen und dazu bestimmt, der Bund für Mein Volk und das Licht für die Völker zu sein: blinde Augen zu öffnen, Gefangene aus dem Kerker zu holen und alle, die im Dunkel sitzen, aus ihrer Haft zu befreien“ (Jes 42, 5ff.).
Im Gottesknecht wird sich die Bundesverheißung erfüllen, die Kirche sehnt in der bevorstehenden Geburt des göttlichen Kindes diese herbei. Seine Macht ist dermaßen gewaltig, daß es den verschlossenen Zugang zum Vater aufzusperren vermag, welcher auf Grund der Urschuld versperrt war. Der Mensch war somit wie in Ketten gelegt, welche ihn daran hinderten, in die endgültige, ewige Gottesgegenwart zu gelangen. Die Menschheit war von Satan gleichsam als Gesamtes in einen dunklen Kerker gesperrt, weil auch die Gerechten nicht zur glückseligmachenden Gottesschau gelangen konnten. Der Himmel, so könnte man bildhaft sagen, war den menschlichen Seelen wie durch ein Kerkergitter versperrt. Diesen „Bereich“, oder besser: Zustand, nennt die Kirche auch den limbus patrum, also den Limbus der Väter. In diesem befanden sich die Seelen all derer, welche wie die Väter (etwa Abraham, Mose etc.) zwar ein rechtschaffenes und gottwohlgefälliges Leben als Gerechte gemäß dem Gesetz geführt haben, denen aber eben auf Grund des Behaftetseins ihrer Seelen mit der Last der Erbschuld der Himmel nicht offenstand, d.h. sie nicht die selige Gottesschau hatten. Christus hat diesen Zustand durch sein Kreuzesopfer behoben und sozusagen das Dunkel des Kerkers erhellt, die Fesseln zerschlagen und die Gitter geöffnet. Das bedeutet: er hat den Zugang zum Vater prinzipiell geöffnet.
Die Kirche bekennt diesen Glauben wenn sie im Credo betet „descendit ad inferos“, d.h. „hinabgestiegen in das Reich der Hölle“ (bzw. in das Reich des Todes) und bezieht sich auf die Seele Christi, welche nach dem Tod dessen menschlichen Leibes und von diesem getrennt in die „Unterwelt“ hinabfuhr, um gleichsam die Tore der Kerker zu öffnen. Gemeint ist damit freilich nicht, dass Christus die ewige Verdammnis aufgehoben hätte, sondern dass er jene Gottesferne beseitigt hat, welche ungerechter Weise für die Gerechten bestand. Die Seelen des Limbus waren nämlich nicht verdammt, sondern entbehrten lediglich der übernatürlichen Glückseligkeit, verfügten jedoch sehr wohl über eine natürliche Seligkeit. Darüber hinaus waren sie nicht jeder Hoffnung entblößt, wie dies bei den Verdammten der Fall ist. Somit ist die alte Bezeichnung „hinabgestiegen in das Reich der Hölle“ im Sinne der Vorhölle zu verstehen. „Hölle“ ist in diesem Sinne sicherlich etwas mißverständlich. Darüber hinaus meint der originale Ausdruck „Scheol“ etwas anderes als unsere „Hölle“, so wie wir sie verstehen. Deshalb hat man dafür optiert, diesen Begriff neu zu übersetzen. Die heute gebräuchliche Version „hinabgestiegen in das Reich des Todes“ beinhaltet zwar sicher auch Richtiges, aber ist ebensowenig zutreffend wie Hölle, weil diese und die „Unterwelt“ doch zwei unterschiedliche Dinge sind.
Es ist die Austeilung der Früchte und der Gaben des Kreuzesbaumes, welche heute antizipiert und herbeigerufen wird. Wenn dies dann tatsächlich geschieht, wird Gott der Welt – in der Karsamstagsstille – abwesend erscheinen, doch in Wirklichkeit geht Er in dieser Zeit der Grabesruhe, in welcher Er den Toten zuzugehören scheint, nur auch zu diejenigen, welche seit so langer Zeit sehnlichst den Messias erwarteten. Er verkündigt ihnen nicht nur das Evangelium, sondern befreit sie auch aus ihrem Kerker. Gottes Erlösungstat ist auch rückwirkend!
Der „Schlüssel Davids“ ist also ein Vorausblick auf die Früchte des Opfers, zu welchem das Kind geboren ist. Er sperrt die Pforten des Paradieses auf, öffnet die Kerker des Limbus, und Er ist es auch, der den Satan letztlich in seine eigene Hölle verschließen wird. Wo er sperrt, da sperrt kein anderer. Sein Handeln ist machtvoll, es ist königliches Regieren.
Dieses ist im Zepter ausgedrückt und mit dem Schlüssel verbunden, wird sich übermorgen nochmals in der Anrufung Christi als den König fortsetzen und weiter entfalten.