Die Gnadenstatue (Teil 1)

Quelle: Distrikt Österreich

Die Gnadenstatue von Mariazell

Wir glauben, dass uns Gott die Gnaden durch Maria, die „Vermittlerin der Gnaden", zufließen lässt. So hat Gott auch mit besonderer Vorliebe, wenn man so sagen kann, Kirchen und Kapellen, die der Allerheiligsten Jungfrau Maria geweiht sind, Bilder und Statuen Mariens auserwählt, um durch sie der Menschheit zu helfen.

Mariazell ist solch ein begnadeter Ort und die Trägerin dieser Auserwählung ist eine unscheinbare Statue der Gottesgebärerin, die hier von Anfang an bis in unsere Tage herauf vom gläubigen Volk vertrauensvoll verehrt wurde.

Nachweislich gibt es bereits im Jahre 1266 eine Kirche mit einem der Gottesmutter geweihten Altar in dem Orte, den man Zell nannte. Damals schon, so kann man mit Sicherheit annehmen, war die jetzige Gnadenstatue Gegenstand der Verehrung. Es kommt ihr also bereits ein hohes Alter zu und sie ist schon deshalb ehrwürdig. Die Statue, nur 47 cm hoch, ist aus Lindenholz geschnitzt. Maria trägt ein weißes goldgesäumtes Unterkleid, das mit einem vergoldeten Gürtel zusammengehalten wird, und einen blauen rotgefütterten Mantel, der ebenfalls goldgesäumt ist. Über den Kopf rieselt ein weißes Tuch schleierartig auf die Schultern herab und läßt nur das Gesicht frei. Auch das Jesukindlein trägt ein weißes Hemdchen mit goldenem Saume. Maria ist mit Schuhen bekleidet, während die Füßchen des Kindes bloß sind. Es ist größtenteils noch die alte Fassung vorhanden, nur das Blau des Mantels ist erwiesenermaßen im Jahre 1786 erneuert worden, als die Statue entkleidet werden mußte und in diesem ungewöhnlichen Zustand ausgestellt wurde.

Die Statue gehört zu der Maria sitzend mit dem Kinde am rechten Arm darstellenden Gruppe von Marienstatuen. Die mittelalterlichen Künstler liebten es, sich in Sinnbildern auszudrücken. Maria sitzt da als Königin des Himmels und Mutter des Erlösers. Der Erlösungsgedanke ist ausgedrückt durch die Früchte, die Mutter und Kind in den Händen haben. Der Apfel in der Hand des Jesuleins ist das Sinnbild der Erbsünde, die Christus auf sich nimmt, um uns von ihr zu befreien. Maria hält eine Birne oder eher eine Feige in der Hand, nach der das Kind greift. Die Feige ist nach der alten Auffassung das Sinnbild des Leidens, das Christus auf sich nehmen musste, um die Menschheit zu erlösen. Dass Maria eigens nach dem Apfel deutet, erhöht den Wert dieser Erklärung der Symbolik des Gnadenbildes. So steht mit vollem Sinn und Recht die Marienstatue über dem Altar, auf dem sich täglich das Erlösungsopfer auf Golgotha erneuert. P. Kilian Werlein spricht im Vorbericht zu seinem Wunderbüchlein „Annoch offenstehender Gnadenschatz“ (1722) von der Gnadenstatue mit folgenden dichterischen Worten:

„Welche auf dem Ärmb thut tragen
 Jesum, das geliebte Kind,
So erlitten viele Plagen,
Genug zu thuen vor (für) die Sünd.
Das Kind seiner Mutter reichet
einen Apfel in die Hand,
Sie dem Kind hingegen zeiget
Eine Biern zum Liebes-Pfand“.

Die Gnadenstatue steht noch immer an der Stelle, wo sie der Mönch, der sie von St. Lambrecht brachte, hinstellte. Noch beim Umbau des Gnadenaltares im Jahre 1727 fand man den Baumstrunk vor, der die Statue zuerst getragen haben soll. Hier blieb sie nun trotz verschiedener Umbauten des Altares mit kleinen Unterbrechungen bis auf den heutigen Tag stehen. Während der Belagerung Wiens durch die Türken (1683) wurde sie nach St. Lambrecht gebracht. Auch in den Kriegsjahren 1797, 1805 und 1809 musste sie in Sicherheit gebracht werden. Bei dem großen Brande im Jahre 1827 rettete sie P. Honorius Wiederhofer und brachte sie in die nahe Kapelle am Siegmundsberg, später kam sie in die Heiligenbrunnkapelle, bis sie wieder auf dem Gnadenaltar aufgestellt werden konnte. 

Mehrere Male wurde die Gnadenstatue von ihrem Platze genommen, um mit ihr, eine Prozession zu veranstalten. So einmal im Jahre 1679, als im Gefolge des anwesenden Kaisers Leopold I. die Pest ausbrach. Von den 136 erkrankten Personen waren bereits 76 gestorben. Da ordnete der Superior eine Prozession mit der Gnadenstatue an. In der Wienergasse gab dieser mit der erhobenen Statue den Segen, worauf nicht nur niemand mehr erkrankte, sondern auch keiner von den Erkrankten starb. Zum zweiten Mal wurde 1680 die Gnadenstatue herumgetragen, als ein furchtbarer Sturm wütete, der sogleich noch während der Prozession aufhörte. Im Jahre 1908 wurde die Gnadenstatue bei ihrer Krönung durch den päpstlichen Nuntius im Triumph durch den Markt getragen. Am 25. März 1915 wurde mit ihr eine Kriegsbittprozession durch den Markt gehalten und an vier Stellen mit ihr der Segen gegeben. Zuletzt wurde die Statue in feierlicher Prozession aus Anlass der Stadterhebungs-Feierlichkeiten im Jahre 1948 durch die Hauptstraßen der Stadt geleitet.

Die äußeren Schicksale der Gnadenstatue sind nicht sehr bewegt. Um und über sie gingen all die großen und kleinen Ereignisse hinweg, die Menschenschicksale erschütterten, so sehr sie selber als Trägerin der der Gottesmutter zukommenden Gnadenvermittlung eingriff in das Leben von Tausenden, in das Geschick von Reichen und Ländern, in das Auf und Ab von Dynastien und Völkern, wie wir es in der geschichtlichen Darstellung der Wallfahrt kennengelernt haben oder wie es vielmehr noch unseren Augen verborgen geblieben sein mag.

7. Kapitel unserer Maiwallfahrt nach Mariazell, die Reihe wird fortgesetzt 

Quelle: Mariazeller Wallfahrtsbücher, Beschreibung der Mariazeller Sehenswürdigkeiten, von Dr. Othmar Wonisch