Weg nach Mariazell (Teil 1)

Quelle: Distrikt Österreich

Zum Abschluss unserer geistigen Wallfahrt nach Mariazell im Marienmonat Mai bringen wir eine Erzählung von unserem Heimatschriftsteller Peter Rosegger (1843-1918) in zwei Teilen, die uns einen schönen Eindruck gibt, wie eine Wallfahrt um das Jahr 1850 gewesen ist. Peter mag sieben oder acht Jahre alt gewesen sein, als sein Vater ein Feld umackerte und der Bub ihm dabei half. Dabei geriet Peter in die spitzen Zähne der Egge, als das Ochsengespann plötzlich durchging. Der Vater, zu Tode erschrocken, suchte seine Zuflucht bei der Gottesmutter und rief laut aus:  »Unsere liebe Frau von Mariazell!« Peter blieb unverletzt und zum Dank entschloss sich der Vater,  eine Wallfahrt nach Mariazell, gemeinsam mit seinem Sohn, zu machen. So weit die Vorgeschichte, nun lassen wir den Schriftsteller selbst sprechen: 

Ich war glückselig, denn eine Kirchfahrt nach dem eine starke Tagreise von uns entfernten Wallfahrtsort war mein Verlangen gewesen, seit ich das erste Mal die Zeller Bildchen im Gebetbuche meiner Mutter sah. Mariazell schien mir damals nicht allein als der Mittelpunkt aller Herrlichkeit der Erde, sondern auch als der Mittelpunkt des Gnadenreiches unserer lieben Frau. Und so oft wir nun nach jenem Gelöbnisse auf dem Felde oder im Walde arbeiteten, musste mir mein Vater all das von Zell erzählen, was er wusste, und auch all das, was er nicht wusste. Und so entstand in mir eine Welt voll Sonnenglanz und goldener Zier, voll heiliger Bischöfe, Priester und Jungfrauen, voll musizierender Engel, und inmitten unter ewig lebendigen Rosen die Himmelskönigin Maria. Und diese Welt nannte ich – Mariazell; sie steht heute noch voll zauberhafter Dämmerung in einem Abgrunde meines Herzens.

Und eines Tages denn, es war am Tage des heiligen Michael, haben wir vormittags um zehn Uhr Feierabend gemacht. Wir zogen die Sonntagskleider an und rieben unsere Füße mit Unschlitt (Talg) ein. Der Vater aß, was uns die Mutter vorgesetzt – ich hatte den Magen voll Freude. Ich ging ruhelos in der Stube auf und ab, so sehr man mir riet, ich solle rasten, ich würde noch müde genug werden. Endlich luden wir unsere Reisekost auf und gingen davon, nachdem wir versprochen hatten, für alle daheim, und für jedes insbesondere bei der »Zellermutter« zu beten.

Ich wüsste nicht, dass meine Füße den Erdboden berührt hätten, so wonnig war mir. Die Sonne hatte ihren Sonntagsschein, und es war doch mitten in der Woche. Mein Vater hatte einen Pilgerstock aus Haselholz, ich auch einen solchen; so wanderten wir aus unserem Alpl davon. Mein Vater trug außer den Nahrungsmitteln etwas in seinem rückwärtigen Rucksack, das, in graues Papier eingewickelt, ich ihn zu Hause einstecken gesehen hatte. Er war damit gar heimlich verfahren, aber jetzt beschwerte es den Säckel derart, dass dieser bei jedem Schritte dem guten Vater eins auf den Rücken versetzte. Ich konnte mir nicht denken, was das für ein Ding sein mochte.

Wir kamen ins schöne Tal der Mürz und in das große Dorf Krieglach, wo einige Tage zuvor mitten im Dorfe einige Häuser niedergebrannt waren. Ich hatte in meinem Leben noch keine Brandstätte gesehen. Ich schloss die Augen und ließ es noch einmal nach Herzenslust brennen, so dass mich mein Vater gar nicht von der Stelle brachte. Eine Frau sah uns zu und sagte endlich: »Mein, 's ist halt armselig mit so einem Kind – wenn es ein Hascherl ist.« Ich erschrak. Sie hatte mich gemeint und ich kannte die Ausdrucksweise der Leute gut genug, um zu verstehen, dass sie mich – wie ich so dastand mit offenem Mund und geschlossenen Augen – für ein Trottelchen hielt.

Ich war daher froh, als wir weiterkamen. Nun gingen wir schon fremde Wege. Hinter dem Orte Krieglach steht ein Kreuz mit einem Marienbilde und mit einer hölzernen Hand, auf welcher die Worte sind: »Weg nach Mariazell.« Wir knieten vor dem Kreuze nieder, beteten ein Vaterunser um Schutz und Schirm für unsere Wanderschaft. »Das greift mich frei an«, sagte mein Vater plötzlich und richtete sein feuchtes Auge auf das Bild, »sie schaut soviel freundlich auf uns herab.« Dann küsste er den Stamm des Kreuzes und ich tat's auch und dann gingen wir wieder.

Als wir in das Engtal der Veitsch einbogen, begann es schon zu dunkeln. Rechts hatten wir den Bergwald, links rauschte der Bach, und ich fühlte ein Grauen vor der Majestät und Heiligkeit dieses Zeller Weges. Wir kamen zu einem einschichtigen Wirtshaus, wie solche in den Wäldern der Räubergeschichten stehen – doch über der Tür war trotz der Dämmerung noch der Spruch zu lesen. »Herr, bleib' bei uns, denn es will Abend werden!« – Aber wir gingen vorüber.

Endlich sahen wir vor uns im Tale mehrere Lichter. »Dort ist schon die Veitsch«, sagte mein Vater, aber wir gingen nicht so weit, sondern bogen links ab und den Bauernhäusern zu, bei welchen es in der Niederaigen heißt. Und wir schritten in eines dieser Häuser und mein Vater sagte zur Bäuerin: »Gelobt sei Jesu Christi, und wir zwei täten halt von Herzen schön bitten um eine Nachtherberg'; mit einem Löffel warmer Suppen sind wir rechtschaffen zufrieden und schlafen täten wir schon auf dem Heu.«

Ich hatte gar nicht gewusst, dass mein Vater so schön betteln konnte. Aber ich hatte auch nicht gewusst, dass er auf Wallfahrtswegen nur ungern in ein Wirtshaus einkehrte, sondern sich Gott zur Ehr' freiwillig zum Bettelmann erniedrigte. Das war ein gutes Werk und schonte auch den Geldbeutel.

Die Leute behielten uns willig und luden uns zu Tische, dass wir aßen von allem, was sie selber hatten. Dann fragte uns der Bauer, ob wir Feuerzeug bei uns hätten, und als mein Vater versicherte, er wäre kein Raucher und er hätte sein Lebtag keine Pfeife im Munde gehabt, führten sie uns in den Stadl hinaus auf frisches Stroh. Wir lagen gut und draußen rauschte das Wasser. Das mutete seltsam an, denn daheim auf dem Berge hörten wir kein Wasser rauschen. »Im Gottesnamen«, seufzte mein Vater auf, »morgen um solch' Zeit sind wir in Mariazell.« Dann war er eingeschlafen.

Am anderen Morgen, als wir aufstanden, leuchtete auf den Bergen schon die Sonne, aber im Schatten des Tales lag der Reif. Von der Veitscher Kirche nahmen wir eine stille Messe mit; und als wir durch das lange Engtal hineinwanderten, an Wiesen und Waldhängen, Sträuchern und Eschenbäumen hin, über Brücken und Stege, an Wegkreuzen und Bauernhäusern, Mühlen, Brettersägen und Zeugschmieden vorbei, trugen wir jeder den Hut und die Rosenkranzschnur in der Hand und beteten laut einen Psalter. Des schämte ich mich anfangs vor den Vorübergehenden, aber sie lachten uns nicht aus; an den Zeller Straßen ist's nichts Neues, dass laut betende Leute daherwandern. Mein Vater betete überhaupt gern mit mir; er wird gewiss immer sehr andächtig dabei gewesen sein, aber mir kamen im Gebete stets so verschiedene und absonderliche Gedanken, die mir sonst sicherlich nicht eingefallen wären. War ich im Beten, so kümmerte ich mich für alles, woran wir vorüberkamen, und wenn sonst schon gar nichts da war, so zählte ich die Zaunstecken oder die Wegplanken.

Heute gab mir vor allem das Ding zu sinnen, das mein Vater in seinem Sacke hatte und das im Rockschoß gerade so hin und her schlug, wie gestern. – Für einen Wecken ist's viel schwer. Für eine Wurst ist's viel groß. – Ich war noch in meinen Erwägungen, da blieb mein Vater jählings stehen und das Gebet unterbrechend, rief er aus: »Du verhöllte Sau!« Ich erschrak, denn das war meines Vaters Leibfluch. Er hatte sich ihn selbst erdichtet, weil die anderen ja alle sündhaft sind. »Jetzt kann ich schnurgerade zurückgehen auf die Niederaigen«, sagte er. »Habt Ihr denn was vergessen?« »Das wär' mir ein sauberes Kirchfahrtengehen«, fuhr er fort, »wenn man unterwegs die Leut' anlügt! – Hast es ja gehört, wie ich gestern erzählt hab', ich hätt' mein Lebtag keine Pfeifen im Maul g'habt. Jetzt beim Beten ist's mir eingefallen, wie ich dort den Holzapfelbaum seh', dass wir daheim auch einen alten Holzapfelbaum gehabt haben und dass ich unter dem Holzapfelbaum einmal 'glaubt hab', 's ist mein letztes End'. Totenübel ist mir gewesen, weil ich mit dem Riegelberger Peter das Tabakrauchen hab' wollen lernen. – Das ist mir gestern nicht eingefallen und so hab' ich unserm Herbergvater eine breite Lug' geschenkt und desweg will ich jetzt frei wieder zurückgehen und die Sach' in Richtigkeit bringen.«

»Nein, zurückgehen tun wir nicht«, sagte ich und in meinen Augen wird Wasser zu sehen gewesen sein. »Ja«, rief der Vater, »was wirst denn sagen, wenn du unsere liebe Frau bist und einer kommt weit her zu dir, dass er dich verehren möcht' und bringt dir eine großmächtige Lug' mit?!«

»Gar so groß wird sie wohl nicht sein«, meinte ich und sann auf Mittel, das Gewissen meines Vaters zu beruhigen. Da fiel mir was ein und ich sagte folgendes: »Ihr habt erzählt, dass Ihr Euer Lebtag keine Pfeife im Mund gehabt hättet. Das kann ja wohl wahr sein. Ihr habt bloß das Rohr und von dem nur die Spitz' im Mund gehabt.«

Darauf schwieg er eine Zeitlang und dann sagte er: »Du bist ein verdankt hinterlistiger Kampel. Aber verstehst, das Redenverdrehen lass ich dir nicht gelten, und auf dem Kirchfahrweg schon gar nicht. Ich hab's so gemeint, wie ich's gesagt hab', und der Bauer hat's so verstanden.« »So müsset es halt gleich beichten, wenn wir nach Zell kommen«, riet ich und darauf ging er ein und wir zogen und beteten weiter.

Beim Rotwirt hielten wir an, mussten uns stärken. Wir hatten nun die Rotsohl zu übersteigen, den Sattel der Veitschalpe, die mit ihren Wänden schon lange auf uns hergestarrt hatte. Die Wirtin schlug die Hände zusammen, als sie den kleinwinzigen Wallfahrer vor sich sah und meinte, der Vater werde mich wohl müssen auf den Buckel fassen und über den Berg tragen, wenn ich nicht brav Wein trinke und Semmel esse.

Hinter dem Wirtshause zeigte eine Hand schnurgerade den steilen Berg hinan: »Weg nach Mariazell.« Aber ein paar hundert Schritte weiter oben im Waldschachen stand ein Kruzifix mit der Inschrift: »Hundert Tage Ablass, wer das Kruzifix mit Andacht küsset, und fünfhundert Tage vollkommenen Ablass, wer Gelobt sei Jesus Christus sagt.« Auf der Stelle erwarben wir uns sechshundert Tage Ablass.

Dann gingen wir weiter, durch Wald, über Blößen und Geschläge, bald auf steinigen Fahrwegen, bald auf glatten Fußsteigen, nach einer Stunde waren wir oben. Wir setzten uns auf den weichen Rasen und blickten zurück in das Waldland, über die grünen Berge hin bis in die fernen blauen. Und zwischen den blauen heraus erkannte mein Vater jenen, auf welchem unser Haus stand. Dort ist die Mutter mit dem kleinen Brüderlein, dort sind sie alle, die uns nachdenken nach Zell. Wie müssen die Leute jetzt klein sein, wenn schon der Berg so klein ist wie ein Ameisenhaufen! – Es war die Mittagsstunde. Wir vermeinten vom Veitschtale herauf das Klingen der Glocke zu hören.»Ja«, sagte dann mein Vater, »wenn man's betrachtet, die Leut' sind wohl recht klein gegen die große Welt. Aber schau, mein Bübel, wenn schon die Welt so groß und schön ist, wie muß es erst im Himmel sein?«

Fortsetzung folgt