Weg nach Mariazell (Teil 2)

Quelle: Distrikt Österreich

2. Teil der Erzählung von Peter Rosegger: Weg nach Mariazell

Wir erhoben uns und gingen den ebenen Weg, der hoch auf dem Berge dahinführt, und ich sah schaudernd zum schroffen Gewände der Veitsch empor, das drohend, als wollte es niederstürzen, auf uns herabstarrte. Endlich standen wir vor einem gemauerten Kreuze, in dessen vergitterter Nische ein lieber, guter Bekannter stand. Der heilige Nikolaus, der alljährlich zu seinem Namenstage mich mit Nüssen, Äpfeln und Lebzelten beschenkte, anstatt dass ich ihm es tat. Und von diesem Kreuze sahen wir auf die Zeller Seite hinab. Doch wir sahen noch lange nicht Zell; wohl aber ein so wildes, steinernes Gebirge, wie ich es früher meiner Tage nicht gesehen hatte. Ein Gebet beim Nikolo, und wir stiegen hinab in die fremde, schauerliche Gegend.

Wir kamen durch einen finsteren Wald, der so hoch und dicht war, dass kein Gräslein wuchs zwischen seinen Stämmen. Mein Vater erzählte mir Raub- und Mordgeschichten, welche sich hier zugetragen haben sollen, und ein paar Tafeln an den Bäumen bestätigten die Erzählungen. Ich war daher recht froh, als wir in das Tal kamen, wo wieder Wiesen und Felder lagen und an der Straße wieder Häuser standen.

Wir waren bald in der Wegscheide, wo sich zwei Wege teilen, der eine geht nach Seewiesen und den anderen weist eine Hand: »Weg nach Mariazell.« »Wenn du nach Zell gehst, so wirst du die größte Kirche und die kleinste Kirche sehen«, sagte mein Vater, »die größte finden wir heut' auf den Abend, zur kleinsten kommen wir jetzt. Schau, dort unter der Steinwand ist schon das rote Türml.« Das Wirtshaus war freilich viel größer als die Kirche; in demselben stärkten wir uns für den noch dreistündigen Marsch, der vor uns lag.

Dann kamen wir an der gezackten Felswand vorüber, die hoch oben auf dem Berge steht und »die Spieler« genannt wird. Drei Männlein sitzen dort oben, die einst in der Christnacht hinaufgestiegen waren, um Karten zu spielen. Zur Strafe sind sie in Stein verwandelt worden und spielen heute noch. Die Straße ist hin und hin bestanden mit Wegkreuzen und Marienbildern; wir verrichteten vor jedem unsere Andacht und dann schritten wir wieder vorwärts, wohl etwas schwerfälliger als gestern, und im Rockschoße meines Vaters schlug fort und fort das unbekannte Ding hin und her. Neben uns rauschte ein großer Bach, der aus verschiedenen Schluchten, zwischen hohen Bergen herausgekommen war. Die Berge waren hier gar erschrecklich hoch und hatten auch Gemsen. »Jetzt rinnt das Wasser noch mit uns hinaus«, sagte mein Vater, »pasa auf, wenn es gegen uns rinnt, nachher haben wir nicht mehr weit nach Zell.«

Wir kamen nach Gusswerk. Das hatte wunderprächtige Häuser, die waren schön ausgemeißelt um Türen und Fenster herum, als ob sich die Steine schnitzen ließen, wie Lindenholz. – Und da waren ungeheure Schmieden, aus deren Innern viel Lärm und Feuerschein herausdrang. Wir eilten hastig vorbei und nur bei der damals neuen Kirche kehrten wir zu. Das war wunderlich mit dieser Kirche – nur ein einzig Christusbild war drin, und sonst gar nichts, nicht einmal unsere liebe Frau. Und so nahe bei Mariazell! Die Lutherischen sollen es gerade so haben. – Wir gingen bald davon. Und als wir hinter das letzte Hammerwerk hinaus waren und sich die Waldschlucht engte, dass kaum Straße und Wasser nebeneinander laufen konnten – siehe, da war das Wasser so klar und still, dass man in der Tiefe die braunen Kieselsteine sah und die Forellen – und das Wasser rann gegen uns.

»Jetzt, mein Bübel, jetzt werden wir bald beim Urlaubkreuz sein«, sagte der Vater, »bei demselben siehst du den zellerischen Turm.« Wir beschleunigten unsere Schritte. Wir sahen die Kapelle, die gerade vor uns auf dem Berge stand und die Sigmundskirche heißt. Da oben hat vor lange ein Einsiedler gelebt, der sich nicht für würdig gehalten, bei der Mutter Gottes in Zell zu sein, und der doch ihr heiliges Haus hat sehen wollen jede Stund'. Ein Vöglein hätte ich mögen sein, daß ich hätte hinauffliegen können zum Kirchlein und von dort aus Zell etliche Minuten früher schauen, als von der Straße. An der Wegbiegung sah ich an einem Baumstamm ein Heiligenbild. »Ist das schon das Urlaubkreuz?« »Das kleine«, sagte mein Vater, »das ist erst zum Urlaubkreuz das Urlaubkreuz. Schau, dort steht es.« Auf einem roten Pfahl ragte ein roter Kasten, der hatte ein grünangestrichenes Eisengitter, hinter welchem ein Bildnis war. Wir eilten ihm zu; ich hätte laufen mögen, aber mein Vater war ernsthaft. Als wir vor dem roten Bildstock standen, zog er seinen Hut vom Kopfe, sah aber nicht auf das Bild, sondern in das neu hervorgetretene Tal hin und sagte mit halblauter Stimme: »Gott grüß' dich, Maria!« Ich folgte seinem Auge und sah nun durch die Talenge her und durch die Scharte der Bäume eine schwarzglänzende Nadel aufragen, an welcher kleine Zacken und ein goldener Knauf funkelten. »Das ist der zellerische Turm.« Mit stiller Ehrfurcht haben wir hingeschaut. Dann gingen wir wieder – ein paar Schritte vorgetreten und wir haben den Turm nicht mehr gesehen. Wir sollten ja bald an seinem Fuße sein...

Noch eine Wegbiegung und wir waren im »Alten Markt« und hinter diesen Häusern stiegen wir die letzte Höhe hinan und hatten auf einmal den großen Marktflecken vor uns liegen, und inmitten, hoch über alles ragend und von der abendlichen Sonne beschienen, die Wallfahrtskirche. Die Stimmung, welche zu jener Stunde in meiner Kindesseele lag, könnte ich nicht schildern. So wie mir damals, muß den Auserwählten zumute sein, wenn sie eingehen in den Himmel. Wir taten, wie alle anderen auch – auf den Knien rutschten wir in die weite Kirche und hin zum lichterreichen Gnadenbilde, und ich wunderte mich nur darüber, dass der Mensch auf den Knien so gut gehen kann, ohne dass er es gelernt hat.

Wir besahen an demselben Abende noch die Kirche und auch die Schatzkammer. An den gold- und silberstrotzenden Schreinen hatte ich lange nicht die Freude, wie an den unzähligen Opferbildern, welche draußen in den langen Gängen hingen. Da gab es Feuersbrünste, Überschwemmungen, Blitzschläge, Türkenmetzeleien, dass es ein Schreck war. Es ist kaum eine Not, ein menschliches Unglück denkbar, das in diesen Dank- und Denkbildern nicht zur Darstellung gekommen wäre. Wer hat diesen Volksbildersälen je eine nähere Betrachtung gewidmet?

Wir stiegen auch auf den Turm; das war unerhört weit hinauf zwischen den finsteren Mauern, wie oft mocht der Rockschoß meines Vaters hin und her geschlagen haben, bis wir da oben waren! Und endlich standen wir in einer großen Stube, in welcher zwischen schweren Holzgerüsten riesige Glocken hingen. Ich ging zu einem Fenster und blickte hinaus – was war das für ein Ungeheuer? Die Kuppel eines der Nebentürme hatte ich vor Augen. Und du heiliger Josef! Wo waren die Hausdächer? Die lagen unten auf dem Erdboden. – Dort auf dem weißen Streifen krabbelte eine Kreuzschar heran. Als der Türmer dieselbe gewahrte, hub er und noch ein zweiter an, den Riemen einer Glocke zu ziehen. Diese kam langsam in Bewegung, der Schwengel desgleichen und als derselbe den Reifen berührte, da gab es einen so schmetternden Schall, dass ich meinte, mein Kopf springe mitten auseinander. Ich verbarg mich wimmernd unter meinen Vater hinein, der war so gut und hielt mir die Ohren zu, bis die Kreuzschar einzog und das Läuten zu Ende war. Nun sah ich, wie die beiden Männer vergebens an den Riemen zurückhielten, um die Glocke zum Stillstand zu bringen; hilfsbereit sprang ich herbei, um solches auch an einem dritten niederschlängelnden Riemen zu tun – da wurde ich schier bis zu dem Gebälke emporgerissen. »Festhalten, festhalten!« rief mir der Türmer zu. Und endlich, als die Glocke in Ruhe und ich wieder auf dem Boden war, sagte er: »Kleiner, kannst wohl von Glück sagen, dass du nicht beim Fenster hinausgeflogen bist!« »Ja«, meinte mein Vater, »kunnt denn da in der Zellerkirchen auch ein Unglück sein?«

Abends waren wir noch spät in der Kirche; und selbst als sich die meisten Wallfahrer schon verloren hatten und es auch an dem Gnadenaltare dunkel war bis auf die drei ewigen Lampen, wollte mein Vater nicht weichen. Gar seltsam aber war's, wie er sich endlich von seinen Knien erhob und in die Gnadenkapelle hineinschlich. Dort griff er in seine Rocktasche, langte den von mir unerforschten Gegenstand hervor, wickelte das graue Papier ab und legte ihn mit zitternder Hand auf den Altar. Jetzt sah ich, was es war – ein Eisenzahn von unserer Egge war es. –

Und am anderen Tage gegen Abend, als wir meinten, unsere Kirchfahrt so verrichtet zu haben, dass Maria und unser Gewissen zufrieden sein konnten, gingen wir wieder davon. Beim Urlaubkreuz blickten wir noch einmal zurück auf die schwarze, funkelnde Nadel, die zwischen zwei Bäumen hervorglänzte. »Behüt' dich Gott, Mariazell«, sagte mein Vater, »und wenn Gottes Willen, so möchten wir noch einmal kommen, ehvor wir sterben.« –

Dann gingen wir bis Wegscheid', dort hielten wir nächtliche Rast. Und am nächsten Tage überstiegen wir wieder den Berg und durchwanderten das Veitschtal. Als wir zu den Bauernhäusern der Niederaigen kamen, sprach mein Vater dort zu, wo wir auf dem Vorweg zur Nacht geschlafen hatten, machte das Einbekenntnis wegen der Pfeife und überreichte der Bäuerin ein schön bemaltes Bildchen von Mariazell.

Als wir am Abende desselben Tages heimgekommen waren und uns zur Suppe gesetzt hatten, soll ich, den Löffel in der Hand, eingeschlafen sein.

 

Damit endet unsere geistige Wallfahrt nach Mariazell im Marienmonat Mai!